Arne Schusters Weblog

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Meine schönste Dienstreise

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Meine schönste Dienstreise

…. und wie sie begann; oder auch nicht, am 28. Oktober 2007.

Kirchheim unter Teck/Stuttgart

Also, die Air France Mitarbeiter solidarisieren sich mit den deutschen Lokomotivführern, oder wollen sie etwa auch einen eigenen Tarifvertrag? Wer weiß das schon? Jedenfalls waren die Streiks angekündigt, aber die Überseedestinationen seien nicht betroffen, hatte es geheißen. Allerdings konnte ich bereits am Freitag feststellen, dass mindestens zwei Flüge ab Stuttgart nach Paris ausgefallen waren. Glücklicherweise betraf das lediglich die weniger frequentierten Mittagsflüge. Aber am Samstagmorgen war alles klar und mein Flug von Stuttgart über Paris nach Rio de Janeiro und weiter nach Belo Horizonte war ja der erste um 7.15 Uhr.

Aber ‚Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste’. In regelmäßigen Abständen hatte ich den Status meines Fluges nach Frankreich im Internet überprüft. Alles klar! Ja, bis abends um 19.00 Uhr oder etwas später. Der größte Teil des Koffers war gepackt, die Bügelwäsche und das elende Falten und Verpacken der Südamerika-Garderobe lag weitestgehend hinter mir: Auf der Webpage des Stuttgarter Flughafens war nach wie vor alles klar für 7.15 Uhr, aber ‚Ach, du Schei…, auf der Air-France Webpage war der Flug bereits annulliert. Freundlicherweise hat sich dann bei der Servicenummer der Air France bereits niemand mehr gemeldet. Service wird ja offensichtlich auch nach 19.00 Uhr nicht benötigt, wenn der Flug am nächsten Morgen sowieso ausfällt. Nach intensiver Suche fand ich dann aber die Servicenummer des Stuttgarter Flughafens. Dort gibt man mir auch bereitwillig und kompetent Auskunft: „Jo, hier bei unsch; jo, hmm, däh isch halt so halb annulliert.“ Mir wurde dann auch gleich anempfohlen den Ticketschalter in Frankfurt anzurufen. Wieder eine 0 180-Nummer. Service kostet halt Geld. Aber um 20.02 Uhr ist dann da auch niemand mehr. Nur noch die automatisierte Ansage der Öffnungszeiten. Aber, da ja eh kein Flieger nach Paris geht….

In weiser Voraussicht (Program Manager eben) hatte ich mich schon vorab nach Alternativen umgeschaut. Billigflieger war nicht. Klar, am Sonntagmorgen bekommt man die Flieger nicht voll. Aber die Bahn… die Bahn fährt immer! Um etwa halb zwölf gibt es einen Nachtzug nach Paris. Der wäre um cirka halb sieben am Gare de l’Est. Ausreichend Zeit, um mit dem Taxi oder einem Shuttle zum Flughafen Charles de Gaulle zu kommen. Also wird sofort der Koffer fertig gepackt, noch einmal duschen und dann los. Nein, noch nicht. Vielleicht wäre es besser, online zu buchen. Dann hätte man wenigstens etwas in der Hand. Leider ist die Onlinebuchung für den Nachtzug termingebunden und jetzt, cirka zwei Stunden vor Abfahrt, nicht mehr möglich. Egal, ins Auto und hin. Doof wenn man dann um 22.28 Uhr vor der geschlossenen Schalterhalle steht und feststellen muss, dass die um 22.30 Uhr geschlossen wird. Zeitsprung, oder auch Solidarisierung mit den streikenden Kollegen? Die nächsten uniformierten Ansprechpartner waren dann zwei Bahnaufsichten, die besoffenen Fußballfans erklären mussten, dass im Bahnhofsgebäude Rauchverbot herrscht. Aber freundlich wie sie sind (die Uniformierten, nicht die besoffenen Fußballfans), begleiten mich beide zum Fahrkartenautomaten, um festzustellen, dass auch hier der Nachtzug nicht buchbar ist. Das hatte ich fünf Minuten vorher aber bereits auch alleine ermittelt. Allerdings konnten Sie mich an den Serviceschalter verweisen. An dem war ich kurz vorher – offensichtlich partiell erblindet – vorbei gerannt, weil ich die Bahnsteige und Anzeigetafeln auf der rechten Seite im Blick hatte. Auf der linken Seite ist auch nach 22.30 Uhr der Serviceschalter mit zwei (!) Mitarbeitern besetzt.

Der Nachtzug ist so kurzfristig nicht mehr buchbar. Man kann jedoch bei Ankunft den Zugleiter ansprechen und direkt vor Ort buchen und bezahlen. ‚Erfahrungsgemäß ist da immer noch ein Plätzchen frei’, wurde ich beruhigt. Bei fast einer Stunde Wartezeit bietet sich dann ein kurzer Abstecher auf die Königsstraße an. Die an einem eher kühlen Oktoberabend allerdings auch an Charme vermissen lässt. Die letzen 20 Minuten bis zur – verspäteten – Ankunft des Zuges verbrachten wir auf dem Bahnsteig. Ich sprinte, nachdem der Zug endlich gehalten hat, zum Schaffner und frage ihn nach den Vakanzen. ‚Nichts zu machen’ war die knappe Antwort. ‚Wir bekommen noch viele Fahrgäste in Karlsruhe dazu. Wir haben aber keine Reservierungsliste und deshalb kann ich keine Fahrscheine mehr verkaufen.’

Die Frage, wie es sein kann, dass man sich damit brüstet, mit 320 Km/h die Alternative zum Fliegen sein zu wollen, aber keinen Überblick über die Reservierungen hat, spare ich mir. Alles Mist! Die simpelste Idee kommt mir erst auf dem Heimweg. Die Buchung lief ja über American Express; eventuell haben die eine 24h-Hotline. Haben Sie! Steht auf meiner Buchungsbestätigung. Allerdings hatte ich bislang noch nie soweit unten gelesen. Dort war man auch nach einer doch recht kurzen Warteschleife ohne Problem bereit, mir zu helfen. ‚München ist belegt, wie weit ist Zürich von Ihnen entfernt?’ Nach einer kurzen Absprache mit meiner persönlichen Kanzlerin wurde dann Zürich gebucht. Der Rest des Fluges bis Belo Horizont blieb gleich.

Das bedeutete, jetzt um kurz nach eins ins Bett und um kurz nach vier wieder raus. Aber erfreulicherweise eine Stunde Zeitgewinn durch die Umstellung von Sommerzeit auf Normalzeit. Das Tanken zahle ich, das kommt mit auf die Spesenrechnung. Von Kirchheim nach Zürich sind es locker 220Km. Ohne Pickerl haben wir es dann auch auf den Landstraßen der Schweiz in Rekordzeit durch Schaffhausen und Winterthur bis nach Kloten geschafft! Super, alles wird gut.

Zürich

Leider nicht gleich. Die Überseeflüge fallen aus. Kurzfristig ist die Anweisung an das Flughafenpersonal in Zürich ergangen, niemanden nach Paris zu lassen, der von dort aus mit Air France weiterfliegt. Das konnte der hilfreiche American Express Mitarbeiter vor knapp sechs Stunden offensichtlich noch nicht wissen. Ich werde an den Schalter der Air France verwiesen.

Ein Verschieben des Fluges auf Montagmorgen (das würde mir zumindest den freien Sonntag bringen) geht aber nicht. Der Streik dauert voraussichtlich auch noch am Montag an. Ich müsste also bis zum Dienstag verschieben, mit Ankunft am Mittwoch. Zu spät für die vielen Dinge, die zu erledigen sind. Also wird mir eine intelligente Variante herausgesucht: Von Zürich nach London. Von London nach New York. Von New York nach Rio de Janeiro mit Zwischenlandung in Sao Paulo. Von da mit der TAM nach Belo Horizonte. Überall drei bis vier Stunden Aufenthalt und Ankunft am Montagnachmittag in Belo. Was soll ich machen? Es gibt kaum eine Alternative.

Das Gepäck wird zwar bis Rio durchgecheckt. Aber vom letzten Mexikourlaub weiß ich natürlich, dass ich für den Transfer in den USA die komplette Einreiseprozedur über mich ergehen lassen muss. Gepäck aufnehmen, mit dem grünen Waiver (Aufenthaltsort in den USA: TRANSFER TO RIO DE JANEIRO) in der Hand muss ich den Koffer abholen, durch den Zoll und dann gleich wieder aufgeben. In Brasilien sowieso. Erst Einreise und dann noch einmal für Belo einchecken. Die TAM gehört nicht zu dem elitären Kreis der Fluggesellschaften, die den Systemzugriff untereinander regeln. Wird wirklich alles gut? Außerdem weist mich die freundliche Dame am Schalter noch darauf hin, dass mein Koffer zu schwer ist. Zwar seinen zwei Gepäckstücke á 23 Kg erlaubt, also insgesamt 46 Kg. Aber kein Gepäckstück darf eben über 23 Kg wiegen.

Das ist das AKSE-Messgerät, das ich noch durch den brasilianischen Zoll schmuggeln werde. Das hat schon den Overnight Express aus Bremen nicht überstanden. Irgendetwas hat im Gehäuse geklappert. Ich habe dann als alter Elektriker das Gerät aufgemacht und festgestellt, dass sich einer der steinzeitlichen Prozessoren (etwas streichholzschachtelgroß und sauschwer) selbstständig gemacht hatte und aus dem Sockel gerutscht war. Diverse Kabelverbindungen sind auch eher locker als fest. Ich habe es zwar zusammengesteckt, aber die brasilianischen Kollegen werden es richten. Jedenfalls wiegt das ganze Gerät mit Gehäuse, Leitungssätzen und dem Sensor schätzungsweise so an die sechs bis acht Kilo. Das Übergepäck wäre sowieso mit auf die Reisekostenabrechnung gekommen – dienstliches Übergewicht sozusagen. Das klingt aber jetzt wie Kummerspeck auf der Arbeit. Aber die gute Frau vom Flughafen Kloten lässt noch einmal alle Fünfe gerade sein und glaubt mir, dass ich das Messgerät in Brasilien lasse und auf dem Rückflug um einiges leichter sein werde. Außerdem fliege ich mit KLM zurück, falls die nicht streiken.

Jedenfalls hocke ich hier in Zürich ohne einen einzigen Schweizer Franken in der Tasche (wann kriegen die endlich den Euro?) und habe noch drei Stunden Wartezeit vor mir. Und der fehlende Schlaf macht sich auch bemerkbar. Meine Kanzlerin ist auf dem Heimweg ins eigene Bett. I feel dizzy.

London

Ha, ich bin in London. Bereits eine ganze Weile. Und teilweise entblößen musste ich mich auch, wie alle anderen. Selbst ohne Verlassen des Sicherheitsbereichs heißt es: Schuhe aus und Gürtel aus der Hose. Hat aber nichts genutzt, der Metalldetektor hat trotzdem gepiept. War wohl meine Brille oder der Quarterpounder am Handgelenk (eine echte russische Poljot). So, und jetzt bin ich immer noch oder bereits wieder dizzy und gleich geht es weiter nach New York. In einer fetten 747-400.

Mittlerweile sammelt sich hier am Gate eine illustre Community Amerikareisender. Die Hälfte spielt mit dem Mobiltelefon, die Jüngeren mit irgendeinem anderen elektronischen Firlefanz. Genau, apropos Firlefanz: Ich habe ein wunderschönes Lederetui für meinen ipod touch erstanden. Hat sich ja schon gelohnt (17 GBP). Au, es geht los. Außerdem fliegen alle größeren Weltreligionen mit. Man kann Kippas, Turbane und einige muselmanische Strickmützen ausmachen. Aber alle vertragen sich oder nehmen gar keine Notiz voneinander. Ich habe noch nicht einmal eine LEAR-Kappe dabei. Und das ist ja auch das äußere Zeichen einer bestimmten weltanschaulichen Zugehörigkeit. Ich muss weg! I feel dizzy.

New York

Ja, unter anderen Umständen… Jetzt bin ich zum x-ten Male in New York. Aber weiter als bis zum Kennedy-Airport habe ich es noch nie gebracht. Die Einreiseformalitäten habe ich problemlos bewältigt. Seit dem Mexikourlaub, den ich ebenfalls über einen US-Airport antrat weiß ich, dass im Feld für die US-Adresse ‚Transit to Brazil’ oder so etwas Ähnliches stehen muss. Der Zollbeamte hat interessiert festgestellt, dass ich als Reiseroute ‚Switzerland’ und ‚UK’ angab. Glaubt mir auf Nachfrage aber sofort, dass ich weder Appenzeller noch Cheddar mitgebracht habe (ernsthaft: er hat wirklich gefragt, ob ich Käse dabei habe). Den Re-Check-In-Schalter habe ich auch sofort gefunden und ich wurde sogar gewissermaßen erwartet. Die Dame (schwarz, mein Gewicht aber gut eineinhalb Köpfe kleiner) hat eine Liste der weiterreisenden Passagiere, sogar wenn sie mit einer ausländischen Airline gekommen sind. Hier könnte die Deutsche Bahn etwas lernen. Die wissen noch nicht einmal wie viel Plätze sie im Nachtzug verkauft haben (siehe weiter oben).

Ein schöner großer Flughafen ist das. Das Personal ist durchgehend freundlich, ich werde zum Air-Train zum Terminal 8 gewiesen. Man achtet sogar darauf, dass ich in den richtigen Zug, beziehungsweise in die richtige Richtung einsteige. Die Sicherheitskontrollen sind gut besetzt, die Wartezeiten vor den Schaltern und Schleusen erträglich und meine brasilianische Gürtelschnalle beschert mir eine Extrarunde durch den Metalldetektor. Und warten, warten, warten. Noch einmal fast drei Stunden bis zum boarden und fast vier Stunden bis zum Abflug. Ich gewöhne mich an die Dizziness. Aber nicht an das Sodbrennen nach dem letzten British Airways Imbiss an Bord. Neben dem überall gesprochenen Spanisch, dass vermutlich bald das Englische in den USA verdrängen wird, höre ich jetzt die ersten portugiesischen Wortfetzen (mannomann brüllt die in die Sprechmuschel – ist ihr Gesprächspartner taub? Und laufend ‚tutto bom’) einiger Mitreisender nach Sao Paulo.

Jawohl: Sao Paulo. Der Flug geht nicht direkt nach Rio, sondern macht noch einmal eine Zwischenlandung in Sao Paulo. Mit mir kann man ´s ja machen. Hoffentlich habe ich mich geirrt und der Flug nach Sao Paulo hat eine Zwischenlandung in Rio. Die Computeruhr zeigt 1.45 Uhr. Vor gut 24 Stunden bin ich für einen kurzen Schlaf ins Bett gegangen. Ich habe gerade erst die Hälfte der Strecke geschafft. Aber man muss auch die positiven Seiten sehen: Das ist ganz schön viel Flug fürs Geld und man sieht eine Menge… Flughäfen. Leider gehört keine der Airlines zum Skyteam. Null Meilen auf mein Konto. Mann, da wäre was zusammengekommen.

Sao Paulo

Nein, es ist kein Wunder geschehen. Der Flug hat in Sao Paulo Zwischenlandung. Eigentlich wechseln wir sogar das Gate und den Flieger. Aber ich habe den halben Flug verschlafen und bin einigermaßen ausgeruht. Und eine Dusche wäre wohl nötig. Gerade hat sich ein Mitreisender hier von mir weggesetzt! Die Uhr zeigt 13.25 Uhr. Vor sechsunddreißig Stunden bin ich letztmalig in mein eigenes Bett gegangen. Um 11.15 Uhr sollte es eigentlich weitergehen. Aber jetzt um 10.30 Uhr tut sich noch nichts am Gate. Da bin ich mal gespannt. Eine Stunde Verzögerung ist normal in Brasilien. Aber ich habe noch einen Anschlussflug nach Belo. Das dürfte spannend werden. Zumal in Rio noch die Zollformalitäten auf mich warten. Und bislang habe ich für den Flug mit der TAM nur ein Ticket, aber keine Bordkarte. Eine Zollkarte mussten alle ausfüllen, die jedoch noch niemand in Empfang genommen hat. Die wichtigen Dienstanrufe sind erledigt. Jetzt geht es hoffentlich bald weiter.

Rio de Janeiro

Ein kurzer Flug von gerade mal fünfunddreißig Minuten. Die Einreiseformalitäten gehen schnell, unpersönlich und unkompliziert wie immer. Beim Koffer dauert es etwas länger, weil sich die American Airlines Kunden durch eine ganze Reihe Continental-Kunden mit Koffern, Kofferkulis und Handgepäck zum Band 8 schlängeln müssen. Aber dafür kommt mein Koffer früh. Als ich vor der kurzen Zoll-Warteschlange stehe, kann ich noch eben sehen, wie es ein Ehepaar trifft, die auf den Zufallsknopf drücken und prompt ein dumpfes Hupen und ein rotes Signallicht ernten. Die müssen ihre Koffer durch die Röntgenschleuse lotsen. Ich lege mir in aller Schnelle ein paar zündende Erklärungen zurecht, warum ich das AKSE-Messgerät mit dem Zubehör am brasilianischen Zoll vorbeischmuggeln wollte, habe dann aber grün und kann unbehelligt passieren. Wird alles doch noch gut?

Wohl nicht, denn die TAM-Schalter sind im anderen Terminal. Am entferntestmöglichen Punkt – wenn man mal davon absieht, dass es ja auch ein anderer Flughafen hätte sein könnte (es gibt mindestens zwei in Rio). Aber auf dem Weg durch die Gänge kann ich schon einmal einen schnellen Blick auf den Corcovado werfen. Also wieder daheim – in Südamerika. Und es fällt mir sofort wieder auf, dass die Mädchen brauner, die Röcke kürzer und die Fußbekleidung sparsamer ist. Das Einchecken funktioniert dann wiederum problemlos und die junge Dame spricht Englisch. Meinen Koffer bin ich los. Jetzt hätte ich gerne etwas zu Essen. Zwar baut das Herumlungern in irgendwelchen Flugkörpern nicht unbedingt viele Kalorien ab, aber ich habe ein oder zwei Mahlzeiten während des langen Fluges von New York nach Sao Paulo verschlafen. Das macht sich dann jetzt auch bemerkbar. Allerdings haben offensichtlich auch die brasilianischen Geldautomaten mit den deutschen Lokführern und den Air France Besatzungen fraternisiert. Alle verweigern die Arbeit mit einer Begründung in Portugiesisch, die ich nicht verstehen kann. Sei `s drum. Ich bekomme auch im BH Shopping Bargeld. Jetzt muss eben das Tauschen meiner letzten fünfzig Euro genügen.

Der Kurs kommt mir angesichts der Höhenflüge des Euros recht mager vor. Geldautomat wäre doch wohl die bessere Alternative gewesen. Als Ableger der sonst üblichen amerikanischen Marken muss jetzt Bob’s Burgers herhalten. Aber in der Not frisst auch der Teufel bekanntlich Fliegen. Die nächsten Tage und Wochen werden mir wieder gegrilltes Fleisch in Hülle und Fülle bescheren. Da darf es jetzt etwas bescheidener sein. Zwar spricht das Personal bei Bob’s Burgers außer Portugiesisch nur Portugiesisch aber mit Händen und Füßen deutet man mir, eine Getränkewahl zu treffen (Guarana, was wohl sonst in Brasilien) und erläutert beflissen, aber für mich eigentlich nicht verständlich, das die Pommes an den Tisch gebracht werden. Nur noch knapp zweihundert Kilometer bis Juiz de Fora und etwa sechshundert bei Belo Horizonte und Betim. Jetzt wird langsam doch alles gut. Die heimische Uhr zeigt 16.45 Uhr. Vor jetzt 36 Stunden ging die Reise los und vor über 40 Stunden war ich zum letzten Male im eigenen Bett. Mittlerweile fühle ich mich auf den Spuren Alexander von Humboldts. Ich glaube, ich werde ihm diese Reise widmen, falls es nicht zu anmaßend ist.

Belo Horizonte

Endlich angekommen. „Es sind über 30°C“, hat der Flugkapitän bereits vom Cockpit aus verkündet. Strahlend blauer Wandkalenderhimmel mit einigen weißen Wolkenfetzen (Minas Gerais 2008), sengende Hitze in den Gangways und Hallen entlang der riesigen Fenster, die zum Rollfeld weisen. Auf meinen Koffer muss ich einen Weile warten und auch auf die junge Dame bei AVIS, die gerade mit dem Telefon beschäftigt ist. Dann hat sie irgendwann doch meine ‚veraltete’ Reservierung gefunden und legt mir zwei Zettel hin, auf die ich so ziemlich alle persönlichen und schützenswerten Daten aufschreiben muss. Vom Pass, Führerschein und der Kreditkarte macht sie dann noch Kopien – einschließlich der Rückseiten. Es wird schon seine Richtigkeit haben. Nachdem ich die Prozedur habe über mich ergehen lassen – Internationalität zeigt sich in Brasilien dadurch, dass man sein Portugiesisch mit ein paar fetzigen englischen Wortsprenkeln ergänzt – steht das Auto auch gleich um die Ecke bereit.

Das Erläutern der Versicherungsdetails und das Abgehen der diversen Vorschäden werden locker in Portugiesisch abgewickelt. Ich nicke nur mehr oder weniger heftig oder knurre ein ‚hmm, hmm’. Meistens komme ich damit durch. Ein schnieker VW Gol (= Polo) mit 1,6l Hubraum. Das ist für brasilianische Verhältnisse nicht schlecht. Klima hat er auch aber leider kein verstellbares Lenkrad. Selbst wenn ich den Sitz weit zurückpositioniere, und der geht ziemlich weit zurück, könnte ich auch mit den Oberschenkeln lenken. Daihatsufahrer sind nun mal verwöhnt. Ab auf die Autobahn.

Bis zum Hotel schaffe ich es fast ganz ohne Verfahren und der Koffer wird mir auch auf das Zimmer gebracht. Endlich auspacken – dieser Aufenthalt dauert nicht nur ein oder zwei Nächte und dann endlich, endlich unter die heiße Dusche. Alles klebte am Körper und das wird auf die Dauer unerträglich. Dann war ich anschließend noch in der Mall. BH Shopping kennt mich aus den vorherigen Aufenthalten als solventen Kunden. Parkplatzprobleme gibt es auch nicht in der abendlichen Rush Hour und ich kann mir den Kofferraum mit Getränken für die nächsten Tage volladen. Dann kann ich den Hotelportier auch noch davon überzeugen, dass ich ins Internet muss. Ein Tag ohne Email ist ein verlorener Tag und ich möchte lieber heute Abend bereits wissen, ob mich morgen früh eine Überraschung erwartet.

Eine der ersten Überraschungen sind die Emails der Air France. Die guten Leute haben sich am Samstagabend und am sehr frühen Sonntagmorgen auf meinem LEAR account gemeldet und mir empfohlen, die Reise bis zum 29. 10. zu verschieben. Volltrottel! Ich bin da! Am 29. Ich habe gewonnen!

Das waren jetzt reichlich über vierzig Stunden Reisezeit. Eigentlich muss ja der Zirkus mit der Bundesbahn und die Anfahrt zum Stuttgarter Hauptbahnhof und zurück nach Hause auch noch mitkalkuliert werden. Dann komme ich fast bei achtundvierzig Stunden heraus. Zwei ganze Tage auf den Beinen für eine Strecke, die man sonst ohne größere Probleme in elf Stunden Nettoreisezeit und etwa siebzehn bis zwanzig Stunden Bruttoreisezeit überwindet.

Morgen früh geht es nach Betim ins Werk. Endlich! Jetzt ist doch noch alles gut geworden.

Written by arneschuster

30. Juni 2008 at 19:58

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Sixdays 2006

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Arne Schuster


Riesenbecker Sixdays 2006


So war ’s


Mai 2006

Riesenbecker Sixdays

Sonnabend, 20. Mai 2006

Tag 1, Von Riesenbeck nach Ibbenbüren

Seit dem frühen Morgen gießt es wie aus Kübeln. Stundenlanger Dauerregen läßt die Stimmung auf das Minimum absinken, zumal der Himmel auf ganzer Front nicht einen hellen Fleck erkennen läßt. Wieder so eine Situation: Man denkt, hofft, glaubt, dass der Wetterbericht – wie immer – nicht zutrifft, wird aber Lügen gestraft. Seit der Wetterdienst Satelliten und Computer einsetzt, passt selbst das regionale Wetter und der angekündigte Regen kommt. Besser noch: Bei Ankunft auf dem Parkdeck in Ibbenbüren gibt es gerade die 12-Uhr-Nachrichten. Und die kündigen für den Nachmittag eine Sturmwarnung für das gesamte Münsterland an.

Warum sich trotzdem über 400 Menschen zusammenfinden um sich 20 Kilometer durch das Sauwetter zu kämpfen, bleibt eines der vielen ungelösten Rätsel dieser Welt. Nass ist es und kalt. Und der kräftige Wind kommt jetzt auch noch dazu. Spontan fällt mir eine Situation von meinem zweiten Marathon ein. Damals war ich spontan nach Frankfurt gefahren, weil ich meinen ersten Marathon in Berlin ganz erstaunlich gut überstanden hatte. Nicht bedacht hatte ich, dass sich 4 Wochen nach dem Berlin Spätsommerwetter in Frankfurt gegen Ende Oktober der Herbst nicht mehr verleugnen ließ. Als ich mich am frühen Morgen mit mehren Läufern vom Hauptbahnhof in Richtung Messegelände in Bewegung setzte und dann bei richtig kalter Witterung der Regen einsetzte, kommentierte das einer der Mitstreiter ganz locker mit: „Das ist gut wenn das jetzt regnet. Dann läßt nämlich der Wind nach…“

Pünktlich, etwa eine viertel Stunde vor dem Start ließ der Regen erstaunlicherweise nach. Langsam, ganz langsam konnte man auch den einen oder anderen blauen Schimmer in der nicht mehr ganz so dichten Wolkendecke sehen. Jetzt kommt der Durchblick. Man klammert sich an alles. Erfreulicherweise geht es in Riesenbeck erst einmal leicht abwärts und dann relativ eben durch die Bauernschaften Lage und Birgte.

Peinlich war es dann schon, als ich bereits nach circa 3 Km hinter mir ein Fahrrad hörte. Offensichtlich war der Fahrer nicht bereit, mich zu überholen. Im Gegenteil, erschien auf ’s äußerste darauf bedacht zu sein, immer schön brav hinter mir zu bleiben. Das Rätsel klärte sich dann ganz schnell. An einer scharfen Wegbiegung konnte ich kurz schräg nach hinten in die Richtung blicken, aus der wir gerade gekommen waren und erblickte – nichts. Jedenfalls keine Mitläufer. Offensichtlich war ich der letzte Läufer und bei dem Radfahrer handelte es sich um den Schlußmann, der aufpassen mußte, dass niemand verloren ging. Kein Wunder, dass der mich nicht überholen wollte.

Der Frust ließ sich überraschenderweise aber noch steigern. Bei jedem Streckenposten, an dem wir vorbeikamen musste ich keine fünf Meter hinter mir etwa folgende Szene anhören: „Hallo, Ihr könnt jetzt Schluß machen. Das war ‚es.“

„Ach, sind das schon alle? Gut, Tschüß dann noch und viel Spaß“

Der Frust ließ sich nur ertragen, weil eine ganze Reihen von offensichtlich schnelleren Läufern sich auch nicht so richtig von mir absetzen konnte, sondern immer in Sichtweite blieben. Insbesondere, als wir nach etwa 8 Kilometern parallel zum Dortmund-Ems-Kanal laufen mussten. Auf einmal wunderte ich mich, dass das Läuferfeld vor mir so dicht und irgendwie etwas näher erschien. 100 Meter weiter erkannte ich blitzschnell die Ursache. An eine Kanalbaustelle sollten wir etwa 300 Meter Sand überwinden. Jeder, der schon einmal versucht hat, am Strand einige Meter zu laufen, weiß wie schwierig und kraftraubend das ist. Bei jedem Schritt versucht man sich abzudrücken und der Sand gibt nach. Das Läuferfeld hat sich dann wieder auseinandergezogen und die alte Ordnung war bald wieder hergestellt.

Na ja, allerdings macht sich dann doch die jahrelange Lauferfahrung bezahlt. Die Vorauslaufenden kamen immer näher und irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich dann einen überholt habe und dann noch eine Frau und dann war ich nicht mehr letzter.

Das hat aber nicht lange gehalten, dann war der Mann wieder neben mir. Und so langsam wurde uns allen klar, dass auch die letzten blauen Flecken am Himmel verschwunden waren. Im Gegenteil, aus dem Münsterland rollte eine pechschwarze Gewitterfront heran und das, zunächst entfernte, Grummeln wuchs zu einem, nun sich nähernden, Donnergrollen heran. Bald fielen die ersten Tropfen und ein Blick auf die Uhr ließ keinen Zweifel daran, dass noch vierzig bis sechzig Minuten Laufzeit vor uns lagen. Wenn Blitz und Donner fast gleichzeitig erfolgen, weiß man, dass das Gewitter ganz in der Nähe ist. Ja, das war dann auch so. Und so richtig wohl ist auch keinem bei dieser Lektion angewandter Metereologie.

Unter dem relativ dichten Blätterdach eines urwestfälischen Buchen- und Fichtenwaldes ist der Regen nicht so schlimm. Wenn man dann aber etwa einhundert Meter voraus den Waldrand erblickt und auf eine langsam ansteigende Weidefläche schaut, über der sich der Himmel entleert, sinkt das ‚Moralometer‘ auf nie gekannte Tiefstwerte. Jetzt kam es aber ganz dicke. Kaum lag der Wald hinter uns, prasselte der Regen los mit dicken, fette Tropfen. Der Wind fegte den Regen schräg über das Land und auf dem leicht ansteigenden Trampelpfad rann uns das Wasser in Bächen entgegen. Auf die Laufschuhe konnte ich jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Pfützen und Rinnsale waren nicht mehr zu umlaufen. Augen auf um nicht in einem dicken Schlammhaufen auszurutschen oder über einen der größeren Steine zu stolpern und weiter bergauf. Als es dann höher in den Teutoburger Wald hinaufging, war dann Laufen fast unmöglich.

Mit schnellem Gehen kam man aber auch gut voran. Bezeichnend das die Laufschuhe jetzt so aufgeweicht waren, dass sie jeden meiner Schritte mit „Quatsch! – Quatsch!“ quittierten. Man mag nicht an Zufall glauben, aber laufend fragt man sich spätestens jetzt, warum man sich so etwas antut. Geld bringt es nicht (im Gegenteil; Anmeldung, Ausrüstung, Anfahrt und das ganze Drumherum kosten reichlich Geld), Ruhm gibt es nur wenig zu ernten und letztlich auch nur für die Erstplatzierten. Und Selbstbestätigung? Was ist dann bestätigt, wenn man 20 Kilometer in zwei Stunden bei Mistwetter zu Fuß zurücklegt. Eigentlich nur, dass man ein Depp ist.

Meine zwei Mitläufer hatten sich mittlerweile beim Aufstieg leicht absetzen können, allerdings nicht soweit, als dass ich sie aus den Augen verloren hätte. Der Kamm war bald erreicht (so hoch ist dann der Teutoburger Wald dann auch nicht) und auf mindestens gleich bescheidenen Wegen ging es im Regen bergab. Nach kurzer Zeit hatte ich die beiden Mitläufer wieder eingeholt. Ja, das ist der Energieerhaltungssatz. Das hat was mit Masse zu tun. Insbesondere mit bewegter Masse. Die hatte ich ja bis auf Kammhöhe hoch gewuchtet und deshalb lief die jetzt fast von alleine bergab.

Als es in die Stadt Richtung Ziel ging, hatte ich bereits die dritte Wasserstelle ausgelassen. Aber bei Temperaturen um die 12° Celsius ist das kaum ein Problem. Der Regen hat ein Übriges getan. Apropos: Ich werde mich bei der Organisation bedanken, weil es heute man tatsächlich ausreichend Wasser auf der Strecke gab (das war jetzt ein Kalauer für Ausdauersportler). Außerdem soll noch erwähnt werden, dass man diese schrumpelige Wasserleichenhaut an den Füßen nicht nur von stundenlangen heißen Wannenbädern oder Schwimmexzessen im Hallenbad bekommt. Nein, einige Kilometer auf der Hausstrecke im strömenden Regen mit den ganz normalen Laufschuhen reichen. Und schon schrumpelt und weicht es.

Auf den letzten ebenen zwei Kilometern habe ich noch einen weiteren Läufer hinter mir gelassen. So, meinen Lieben, teilt man einen Halbmarathon ein. Weitere drei Läufer wären noch machbar gewesen, aber bei diesem Wetter war mir ‚ins Ziel kommen‘ genug. Und außerdem muss ich ja morgen noch einmal laufen. Dann geht es von Ibbenbüren nach Tecklenburg und es sind einige Steigungen zu überwinden. Meine Hoffnung ruht allerdings auf den Gefällen.

Ergebnis: Platz 438 von 442 gewerteten Läufern

Riesenbecker Sixdays

Sonntag, 21. Mai 2006

Tag 2, Von Ibbenbüren nach Tecklenburg

Mir tut mein linker Knöchel weh. Nicht beim Laufen, sondern nachher. Auch so ein Phänomen ohne zündende Erklärung. Gestern nach dem ersten Lauf hatte ich bereits etwas bemerkt, aber heute nach dem zweiten Lauf ist es wirklich schlimmer geworden. Aber was sollte man auch erwarten, von der ’schlimmsten‘ Etappe. So war sie uns jedenfalls heute morgen beim üblichen Briefing während der Busfahrt angekündigt worden. Offensichtlich war die Streckenbeschreibung der willkommene Anlass, nicht näher auf das Wetter eingehen zu müssen. Das war nicht dramatisch besser als am Vortag. Aber der Wetterbericht, der gestern ja erstaunlicherweise gnadenlos zutreffend war, hatte für heute ja leichte Besserung bis zum Abend versprochen.

Beim Warten auf den Start wurde es dann auch etwas frühlingshafter. Was aber den Veranstalter lediglich animierte, darauf hinzuweisen, dass somit die Wahl des richtigen Outfits für diesen Tag recht schwierig sei. Zum Wechseln war es eh zu spät. Also freut man sich über die wenigen azurblauen Flecken zwischen den regengrauen Wolken und hofft auf gesundes Ankommen.

Auf die Frage, ob die Strecke eben sei, wurde dann grinsenderweise geantwortet: “Ja, auf den ersten drei Kilometern“. Drei hammerharte Anstiegen wurden angekündigt und auch gleich darauf hingewiesen, dass man in Tecklenburg angekommen, sich nicht zu früh freuen möge. Zunächst sei noch eine Extraschleife steil abwärts über den Hexenpfad, am Haus Mark, dem alten Tecklenburger Bahnhof und den Königsteichen vorbei bis zu einer Straße, die sich Am Himmelreich nennt. Offensichtlich, das ist wohl der Sixdays-Kalauer hat die Straße den Namen von ihrem steil in einigen Windungen nach oben führenden Verlauf. Aber unter Ausdauersportler regiert auch zweifelsohne das positive Denken. Am Himmelreich ist der dritte und letzte Aufstieg.

Das ist zwar so auch nicht richtig, den man muss anschließend noch eine lange ansteigende Wegstrecke bis zum Bismarckturm überstehen. Und in diesem Jahr war zudem noch der Zieleinlauf wegen der Freilichtbühnen-Premiere verlegt worden. Anstatt locker abwärts ins Ziel, mussten wir leicht ansteigend zur Zeitnahme laufen. Nach zweieinhalb Stunden kein Pappenstiel. Aber s wären nicht die Riesenbecker Six Days, wenn man nicht auf die letzten warten würde. Mit persönlicher Ankündigung, von Cheerleadern mit Pompons und einer Sambatruppe begrüßt, ließ sich auch die Anstieg ins Ziel überwinden.

Ein weiteres, völlig unerklärliches Phänomen trifft man – nicht nur – aber diesmal auch in Tecklenburg an. Es handelt sich um das Phänomen der ‚variablen Restlaufstrecke‘. Bereits einige Kilometer vor dem Ziel wird man mit aufmunternden Zurufen bedacht. Zunächst sind sie meistens noch unspezifisch (Superleistung! Du schaffst das!), werden dann aber ab etwa einen Kilometer vor dem Ziel sehr spezifisch. Der erste Zuruf wies mich noch auf konkrete 900 Meter bis zum Ziel hin (ächz!), die sich aber bereits wenige Meter weiter auf zweihundert Meter wunderlicherweise verkürzt hatten. Aber nur um bei nächster Gelegenheit sich auf dreihundert Meter zu verlängern. Mein – offensichtlich – recht ungläubiges Staunen wurde kurzerhand mit „Da, gleich um die Ecke kannst Du das Ziel fast schon sehen“ quittiert.

Von unterwegs gibt es da nicht so viel zu berichten. Zu Beginn durfte ich mir die Kommentare der beiden begleitenden Schlussfahrer anhören. Ich war mal wieder der letzte. Aber auch diesmal waren die Steigungen meine Verbündeten. Dann auf jede Steigung folgt ein Gefälle und da war ich nun mal der Meister. Und Lügen gestraft habe ich Sie. Es war doch etwas wärmer als gestern und geregnet hat es unterwegs auch nicht. So konnte ich schon bald meine Laufjacke ausziehen und in erprobter Weise um den Bauch binden. Einer der Radfahrer hat meinen Laufstil und meine Schnappatmung wohl so interpretiert, dass er mich als Dauerbegleitung angesehen hat.

„ Du kannst mir ruhig Deine Jacke geben, wenn Sie Dich stört.“

„Lieber nicht, wer weiß schon, wann ich sie wieder brauche.“

„Kein Problem, ich kann sie Dir dann sofort wiedergeben.“

Ich kann jetzt auf Anhieb nicht sagen, wie das zu interpretieren ist. Die Riesenbecker Sixdays sind stolz auf den familiären Charakter. Jedem wird geholfen, jeder wird unterstützt und jeder soll nach Möglichkeit alle sechs Läufe mitmachen. Deshalb erhält man an Strecke und an jeder Trinkstation aufmunternde Zurufe („Wir sehen uns ja gleich in Tecklenburg“). Aber der Radfahrersäckel hat mir nicht zugetraut, noch weiter nach vorne zu rennen.

Tiefe Befriedigung haben einmal mehr die diversen Straßensperrungen gebracht. So ganz hinten läuft man ja meistens allein und zwischen den einzelnen Läufern ist immer reichlich Platz. Als ich die Bundesstraße 219 überquerte habe ich an dem Polizisten vorbei mal in Richtung Dörenther Klippen gelinst. Spitze! Mindestens dreihundert Meter Autos, die alle geduldig warten mussten – auf mich!

Beim ersten Abstieg war es aber soweit. Margarete ist nämlich eine Schissbüchse und geht ganz vorsichtig und bedächtig den steilen Trampelpfad hinab. Als alter Motorradfahrer weiß ich natürlich genau, dass man seine Augen da hat, wo man sich zwei Sekunden später befindet. So kann ich relativ schnell abwärts laufen, weiche den dicken Wurzeln und Steinen aus, nutze den einen oder anderen Vorsprung, der sicheren tritt bietet und habe mich dann bald ein Stück abgesetzt. Die Radfahrer habe ich bis zum Ziel nicht mehr gesehen.

Später hat mich Margarete wieder eingeholt. An der dritten Trinkstation habe ich sie dann ziehen lassen. Für die letzten Kilometer musste ich auftanken. Cola mit reichlich Zucker und Koffein kann bei müden und schweren Beinen Wunder wirken. Am Hexenpfad hatte ich Margarete wieder eingeholt und sie hat mich nicht mehr gepackt. Als sie mit einer Minute Verspätung ins Ziel kam, hat Sie mir gratuliert und ich habe mich von ihr mit „Bis Morgen, dann“ verabschiedet.

Natürlich habe ich mich auch noch hinreißen lassen, eine Sixdays-Maskottchen zu kaufen. Erstmalig gibt es die Ameise, die bislang nur die Aufkleber und die bestickten Handtücher schmückte, als Stofftier. Jetzt fällt mir erst auf, dass das arme Tier amputiert ist. Zwei Hände, zwei Füße… Insekten haben sechs Gliedmaßen – alle – ausnahmslos. Wer hat das bloß verbrochen. Falls das eine Sparmaßnahme war – ich hätte für die fehlenden Gliedmaßen auch einen Euro mehr bezahlt. Aber so sind sie, die Riesenbecker Sixdays.

Ergebnis: Platz 425 von 427 gewerteten Läufern (15 raus)

Riesenbecker Sixdays

Montag, 22. Mai 2006

Tag 3, Von Tecklenburg nach Mettingen

Durchaus spannend ist die Morgenlektüre. Neben den lokalen Großereignissen, wie Schützenfest und Sängerjubiläen wird dem besiegelten Abstieg des Bundesliga-Gründungsmitglieds Preußen Münster aus der Regionalliga Nord viel Raum geschenkt. Interessanter sind aber die Nachrichten zum samstäglichen Unwetter. Neben Windhosen im Grenzgebiet zwischen dem Ruhrgebiet und dem Münsterland wird von zahlreichen abgedeckten Dächern, umgestürzten Bäumen und zerstörten Autos berichtet. Bei diesem Wetter sind wir gelaufen. Ehrlicherweise muss eingeschränkt werden, dass es nicht alle so hart getroffen hat. Die schnellen Läufer waren bei Einbruch des Unwetters bereits im Ziel. Die langsamen und bedächtigen Läufer hat es erwischt. Das sind die Harten!

Die leichteste und kürzeste Etappe sollte es werden. Angepriesen wie ein Neuwagen:“Die laufe ich selbst ganz gerne. Das ist meine Lieblingsetappe.“ So wurde uns mindestens zweimal der dritte Tag schmackhaft gemacht. Ich hatte zunächst einmal mit meinem Knöchel zu kämpfen. Am Vorabend war ich noch ins Kino gehumpelt. Das ist nicht übertrieben. Auftreten konnte ich nicht mehr. Nicht mit dem Fuß und in dieser Verfassung nicht vor meinem Publikum. Ein Arztbesuch vor dem Lauf war von mir aus organisatorischen Gründen (Wartezeit und ein drohendes ‚Aus‘ für das weitere Laufen) auch nicht wirklich ins Kalkül gezogen worden. Paracetamol, hoch dosiert, und vorsichtige Belastung mussten aber Klarheit bringen, ob überhaupt ans Laufen am dritten Tag zu denken war. Aber ich habe noch nie einen Wettkampf verletzungsbedingt aufgeben müssen. Und wer sollte die rote Laterne tragen, wenn nicht ich?

Für alle Fälle hatte ich geplant, mir doch noch eine weitere Laufjacke zuzulegen. Auf Oktoberwetter war ich gar nicht eingestellt. Nur kurze Hosen und eine einzige Jacke mit Regenqualitäten hatte ich eingepackt. Beim Einkaufsbummel in Lengerich (?) Ja das muss erst einmal erläutert werden: Einkaufsbummel in Lengerich. Da stehen seit zwanzig Jahren mehrere ungenutzte und ungepflegte, leerstehende Häuser mitten in der Innenstadt. Noch kein Bürgermeister und keine Stadtveraltung hat es fertiggebracht, den Besitzern die Renovierung vorzuschreiben (vermutlich sitzen die Eigentümer selbst im Stadtrat) oder ein Gericht anzurufen, damit die investitionsmüden Eigentümer enteignet werden. So ist die Innenstadt von Lengerich immer noch unattraktiv wie eh und je. Geschäfte sterben und ab und zu findet sich jemand mit einer neuen Geschäftsidee und macht nach einem halben Jahr wieder pleite. Zielsicheren Erfolg haben offensichtlich nur die Mobiltelefonhändler.

Tatsächlich gab es aber ein gut sortiertes Sportgeschäft. Den Eindruck vermittelte zunächst die Auslage. Innen war es schon schlechter bestellt, konnte ich doch beim ersten Taxieren der Angebote gar nicht genau die Ecke lokalisieren, in der die Laufklamotten stehen. Eine Angestellte hat mich aber dann an den richtigen Ständer begleitet. Bei meiner Größenangabe ‚XXL‘ war sie dann aber doch überfordert. Sie zeigte mir eine Funktionsjacke und meinte bedauernd, dass es eben nur XL sei. Die Jacke passte trotzdem, weil amerikanisch XL eben europäisch XXL ist. Ich weiß dass, obwohl ich keine Ober- und Sportbekleidung verkaufe. Die Jacke war deutlich teurer als geplant, hat aber abnehmbare Ärmel. Wenn es nicht ganz so schlimm wird, kann ich eine Weste draus machen. Das hatte ich mir schon immer gewünscht – und jetzt in einem Sportgeschäft des Mittelzentrums Lengerich erstanden.

Stehengeblieben war ich beim Einkaufsbummel. Während ich durch Lengerich lief, wurde das mit dem Fuß immer besser. Also bei Belastung ist es gut und wenn ich ruhe, tut mir der Knöchel oder das Sprunggelenk weh. Zumindest war ich jetzt um eine persönlich Ausrede, um nicht laufen zu müssen, ärmer und konnte mich pünktlich umziehen und zum Sammelpunkt nach Mettingen fahren. Außerdem sollte ich mich um eine Bekanntschaft zu einem angehenden Orthopäden bemühen. Meine physischen Phänomene könnten ja leicht Inhalt einer Dissertation oder gar Habilitation werden.

„What is Mettingen famous for?“ werden die gänzlich Unbedarften jetzt fragen. Aber denen kann geholfen werden. Unter ‚Tödden‘ oder Tüödden‘, auch unter ‚Hollandgänger‘ kann man mal nachgoogeln. Leineweber aus Mettingen haben sich vor zweihundert Jahren zu Fuß auf den Weg nach Holland gemacht, um dort ihre Stoffe zu verkaufen. Später sind sie seßhaft geworden und haben das Geschäft von ihren neugegründeten Handelshäusern aus betrieben. So sind in und aus Mettingen Unternehmen wie C+A (Clemens und August Brenninkmeyer) oder Hettlage entstanden. Und das zweihundert Jahre vor Benetton und GAP. Zwei Jahrhunderte bevor Paris, London und Mailand zu Modezentren wurden. Insofern sei aber auch kritisch angemerkt, dass sich die eben genannten Metropolen deutlich besser entwickelt haben, als das münsterländische Mettingen, das heute kaum noch jemand kennt.

Im Bus der uns zum Start nach Tecklenburg brachte, habe ich mich erst einmal mit Margarete ausgetauscht, die ja – mehr oder weniger – mit mir zusammen die rote Laterne trägt. Den nachfolgenden Oskar lassen wir mal weg. Mit der Altersgruppe der über siebzigjährigen muss man sich nicht mehr messen. Wer weiß, wer von uns noch in dreißig Jahren 20 Kilometer am Stück laufen kann. Geschweige denn, täglich an sechs aufeinanderfolgenden Tagen.

Von der kürzesten und leichtesten Strecke war nicht mehr viel zu merken. Es regnete. Wenn auch weniger als an den beiden vorangegangenen Tagen. Obwohl ’nur bergab‘ großzügig versprochen wurden, gab es wieder reichlich Steigungen, die nur gehender weise zu bewältigen waren. Und der dritte Lauf hintereinander macht sich dann doch irgendwann bemerkbar, wenn die Beine von Schritt zu Schritt schwerer werden. Nach eineinhalb Stunden hätte schon längst das angekündigte Gefälle in die Mettingen Innenstadt kommen müssen. An einer Bauernschaft aus drei bis sechs Häusern stand die ganze Nachbarschaft zusammen und hat uns mit mehr oder weniger flotten Sprüchen Mut gemacht. „Ab jetzt nur noch bergab“ wurde uns zum wiederholten Male angekündigt. Auf meinen Protest hin, dass wir das bereits mehrere Male gehört hätten und als leere Versprechung werteten, richteten sich gleich drei Finger auf mich und deuteten vor meine Schuhspitzen. „Hier ist der höchste Punkt, versprochen!“. Es war dann auch so. Das angebotene Bier habe ich mit der Begründung, dass ich noch Autofahren müsse, dankend abgelehnt.

Die typisch familiäre Atmosphäre der Riesenbecker Sixdays gab es heute auch an anderer Stelle wieder. Bei einigen Streckenabschnitten ist es schon recht einsam. Stehen da doch nur einige Häuser zusammen und Eltern mit ihren Kindern verfolgen das Rennen tatsächlich bis die Radnachfahrer mit dem letzten Läufer vorbeikommen. Es bricht einem ja fast das Herz, wenn man eine privat initiierte und improvisierte Erfrischungsstelle durchläuft und einem ein vielleicht dreijähriges blond gelocktes Westfalenmädchen mit treuem Blick einen triefenden Schwamm entgegenhält und „Möchten Sie diesen Schwamm haben?“ fragen (Die Betonung liegt auf dem ‚Sie‘. Offensichtlich hatten bereits mehrere Mitläufer abgelehnt und die Frage klang doch ziemlich enttäuscht). Aber bei zwischenzeitlichen Nieselregen und maximal 17° Celsius brauche ich doch wirklich keinen Schwamm. Ich hätte ihn einfach nehmen und ausdrücken sollen.

Ein weiterer Abschnitt im Wald zwischen Laggenbeck und Mettingen war so überflutet, dass wir zeitweise parallel zu dem eigentlichen Weg durch den Wald laufen mussten, da der Weg sich in eine Art ‚Mettinger Seenplatte‘ verwandelt hatte. Einen Läufer konnte ich dort einholen. Einen quer über den Weg liegenden Baumstamm (ein richtiger Baum, kein Schößling) konnte ich trotz akuter Ermüdung und chronischem Übergewicht elegant überspringen, anstatt drumherum zu laufen (leider keine Zeugen) und die zeitweise hundert Meter vor mir laufende Margarete hatte ich dort auch eingeholt. Sie hat dann auf der Straße aber wieder einige Meter Vorsprung heraus gelaufen. Etwa einen Kilometer vor dem Ziel hat ihr Mann sie dann abgepasst und sie ins Ziel begleitet. Da bin ich nicht mitgekommen. Im Ziel habe ich sie dann mit „Heute hast Du mir den Schneid abgekauft“ beglückwünscht.

Wie im vergangenen Jahr gab es als Zugabe ein Biobrot eines lokalen Bäckers für jeden Finisher. Meine Güte, hat sich das wieder mal gelohnt. Ich laufe immer noch ziemlich weit hinten. Der Fuß hat gehalten (Was ist das bloß?) und denke: Selbst wenn ich ganz hinten laufe; dreimal Halbmarathon hintereinander. Wer kann das schon vorweisen? Wenn es morgen noch einmal klappt, sind schon zweidrittel vorbei. Heute war Halbzeit!

Ergebnis: Platz 413 von 415 gewerteten Läufern (27 raus)

Riesenbecker Sixdays

Dienstag, 23. Mai 2006

Tag 4, Von Mettingen nach Ibbenbüren-Dickenberg

Der vierte Tag ist der Schicksalstag. Das Wetter ist wie an den vorhergehenden Tagen äußerst bescheiden. Der neue Tag begrüßt mich mit Dauerregen – sehr zuverlässig. Neben den jetzt sich langsam bemerkbar machenden Ermüdungserscheinungen physischer Natur, kommen die psychischen Ermüdungserscheinungen. So richtig Lust auf weitere zwanzig Kilometer habe ich nicht. Man kann auch ohne Laufen ganz gut leben. Aber was man mal angefangen hat, gibt man nicht ohne triftigen Grund auf. Gestern war Halbzeit und heute Abend wären dann bereits zweidrittel geschafft. Also wacker weiter. Oder mit Sir Winston gesprochen: „We’ll never surrender! We’ll never give up!“

Dickenberg ist ein etwas außerhalb von Ibbenbüren liegender Ortsteil. Der Name bezieht sich offensichtlich auf die riesengroße Abraumhalde, die hier seit – vermutlich – Jahrzehnten aufgetürmt wird. Teilweise ist sie bereits so zugewachsen, dass man den Berg gar nicht mehr als künstliches Gebilde wahrnimmt. Das Ziel liegt auf einem Schulhof, mitten in einem pittoresken Neubau-Wohnviertel. Also besser gleich in den Bus steigen und nach Mettingen zum Start fahren. Vorher kann ich noch mit meiner Mit-Roten-Laterne-Trägerin Margarete und ihrem Mann einige Worte zum bevorstehenden Lauf wechseln. Als äußerst schwer ist er wieder einmal angekündigt, weil wir viele Streckenabschnitte passieren müssen, die durch die nasse Witterung zu Schlammlöcher wurden. Merkwürdigerweise ist Margarete immer noch gut drauf und lässt sich nicht von meiner schlechten Laune anstecken.

In Mettingen sind wir alle überpünktlich versammelt. Das überfordert die einzige öffentliche Toilette des Fremdenverkehrsamtes dramatisch. Aber da können Ausdauersportler improvisieren. Die ultimative Steigung der Sixdays wird zum wiederholten Male angekündigt: 24% Steigung – man empfiehlt zu gehen. Nach wie vor für mich schier unglaublich: Kann irgendjemand 24% Steigung laufen? Ich kann mich an den Lauf vor zwei Jahren erinnern. Das geht nicht. Da muss man alpin die Anhöhe erklimmen. Margarete und mir ist auch eine trickreiche Stelle bekannt, an der sich Margarete vor vier Jahren und ich mich mit einer Handvoll Läufern vor zwei Jahren jämmerlich verlaufen haben. Man läuft den offensichtlichen Weg geradeaus, am besten hinter einem anderen Läufer her und übersieht die Pfeile nach rechts. Margarete ist damals, genau wie ich vor zwei Jahren, von unkundigen Ordnern auch glatt in die Walachei geschickt worden. Über dreißig Minuten Umweg und keine Zeitgutschrift. Aber heute kennen wir ja die Strecke.

Zwanzig Minuten vor dem Start. Pünktlich setzt der Regen ein. Ein kräftiger Schauer treibt die Läufer unter Markisen und in Garageneinfahrten. Aber fünf Minuten vor dem Start hat es sich ausgeregnet, die dunkle Wolke ist vorbeigezogen und macht sogar einem weiß-blauen Himmel platz. Wer kann schon sagen, für wie lange? Dann geht es zunächst einmal unspektakulär los. Nach zwei Kilometern kommt die besagte Stelle, an der statt geradeaus scharf rechts gelaufen werden muss. Kein Problem. Diesmal steht eine ortskundige Ordnerin dort und bugsiert alle Teilnehmer in die richtige Richtung. Offensichtlich. Genau kann ich es nicht sagen, weil bereits nach zwei Kilometern fast alle Läufer aus meinem Blickfeld verschwunden sind. Ich habe schwere Beine, die Waden tun weh und die beiden Radnachfahrer gehen mir mit ihren Diskussionen auf den Zeiger. Das ist aber meine Schuld, ich könnte ja zum Beispiel schneller laufen. Bald kommt die angekündigte, schweinemäßige, sausteile Steigung. Das offizielle Verkehrsschild weist sogar 25% aus. Das sind glatte 45°, so stelle ich mir einen alpinen Abfahrtshang vor. Margarete kann ich bald nur noch zweihundert Meter vor mir ausmachen. Als ich mich bei den Radnachfahren für eine knappe Minute in die Büsche abmelden muss, ist Margarete anschließend gar nicht mehr zu sehen.

Außerdem habe ich als unfreiwilliger Mithörer der Nachfahrergespräche mitbekommen, dass Otto offensichtlich nicht mehr dabei ist. Otto in der Altersklasse M70 war meine letzte Hoffnung, nicht als Letzter in der Liste zu landen. Aber jetzt ist es wohl bittere Realität: Ich werde morgen der Letzte auf der Liste sein. Spontan fällt mir ein Verbesserungsvorschlag ein, den ich unbedingt schnell an den Mann bringen muss: Die Liste darf nicht mit dem letzten gewerteten Läufer enden, sondern muss in der Nachfolge noch die aus der Wertung genommenen Sportler aufführen. So ähnlich wie bei den Formel 1- Rennen. Zumindest würde die veränderte Optik mir deutlich besser gefallen.

Irgendwann – ich kämpfe mich von Kilometer zu Kilometer – kommt ein wirklich schöner Streckenabschnitt. Es geht etwa zwei Kilometer auf einem breiten Waldweg quer durch die Wildnis. Endlich seit Tagen sieht man zwischen den Baumwipfeln strahlend blauen Himmel und hunderte von Vögeln machen einen Riesenterz. Wenn es keine Wettkampf wäre, hätten wir hier eine wirklich schöne Laufstrecke durch den Frühlingsabend-Sonnenschein-Wald mit Vogelgezwitscher und Harzgeruch. Leider stören die laut diskutierten Urlaubspläne der beiden Radnachfahrer die Idylle etwas. Bald wird der Wald dann etwas lichter und am Ende des Weges mache ich ein paar weiß-grüne Gestalten aus.

Wie vor zwei Jahren steht eine Abordnung von Grün-Weiß Steinbeck dort und macht eine Geräuschkulisse, als ob gerade Paula Radcliff in Weltbestzeit durchläuft. Eine Verwechselung ist ausgeschlossen. Ich trage meine Mexico-Shirt. Das Three-Lions-England-Shirt musste zuhause bleiben. Zwanzig Leute vom Steinbecker Turnverein haben offensichtlich heute Abend nichts besseres vor, als auf den letzten Läufer zu warten und ihm zuzujubeln. So geht es zu bei den Riesenbecker Sixdays. Gleich dahinter macht eine Nordic-Walking-Truppe ihre Dehnübungen. Das flotte, an mich gerichtete „Hopp! Hopp!“ der Trainerin quittiere ich zum Gaudi ihrer Truppe mit: „Nicht nur anfeuern, selber laufen!“. Worauf sie schlagfertig retourniert:“ Wir haben fertig!“ Unterwegs stehen auch diesmal wieder an zahlreichen Stellen die Nachbarschaften zusammen und feuern mich an.

Auch gibt es im Kreis Steinfurt noch echte Dorfbüttel. Bei einer der zahlreichen Straßenabsicherungen bremst ein Polizist mehrere Autos aus. Als sich ein Van etwas weiter vorwagt, weil er offensichtlich nicht ausmachen kann, wo er stehenbleiben soll, beschwört ihn der Polizist in markigem Plattdeutsch: „Bliev stoun!“

An Steinbrüchen und Abraumhalden vorbei geht es weiter in Richtung Dickenberg. Man kann da allerdings bei den Sixdays nie so sicher sein. Hatte ich doch bereits nach einer dreiviertel Stunde einen Fahrradwegweiser mit dem Hinweis ‚Dickenberg 5,5 Km‘ ausgemacht. Aber irgendwie folgt der Wanderweg solch ominösen Schleifen, dass aus den objektiven 5,5 Kilometern gefühlte 55 werden. Irgendwann kommt dann aber doch Dickenberg in Sicht. Die Aufforderung an Ordner und Polizei bei der letzten Straßensperre doch mal mich für fünf Minuten anzuhalten, stößt auf allgemeines Unverständnis. Es sei nur noch ein knapper Kilometer wird mir beschieden.

Diesmal bin ich der letzte Läufer im Ziel. Deshalb wird mir das zweifelhafte Vergnügen zuteil, dass etwa zwanzig Cheerleader mit ihren Pompons hinter mir herlaufen und mich die letzten zwanzig Meter ins Ziel begleiten. Ein tolles Gefühl: Ich bin alt, grau, übergewichtig und langsam und trotzdem rennt ein Haufen frühreifer Mädels hinter mir her.

Margarete steht mir ihrem Mann im Ziel und drückt mir die Hand. Irgendwie sieht ihr Lächeln etwas überlegen aus, oder bilde ich mir das ein? Paula Radcliff habe mich in London auch stehengelassen; ich sei es gewöhnt, dass die Mädels schneller sind, kann ich Margarete aufklären. Sie macht mir Hoffnung: Morgen sind wieder einige steile Abstiege zu bewältigen. Dann schlägt meine Stunde. Das kann man auch anders interpretieren.

Ergebnis: Platz 411 von 411 gewerteten Läufern (31 raus)

Riesenbecker Sixdays

Mittwoch, 24. Mai 2006

Tag 5, Von Ibbenbüren-Dickenberg nach Ibbenbüren-Ost

Dickenberg und das Sportzentrum-Ost liegen beide in Ibbenbüren. Man kann sich kaum vorstellen, dass sich daraus ein Halbmarathon stricken lässt, aber uns wird die Strecke mit 21 Kilometern angegeben. Diesmal muss erstmalig von der traditionelle Strecke abgewichen werden. Schuld daran ist, so wird uns erläutert, die Autobahn-Maut, die jede Menge Lastkraftwagen auf die kostenfreien Nebenstrecken bringt. Somit ist die Polizei nicht bereit, uns an einer exponierten Stelle über die Straße zu helfen. Etwas weiter außerhalb an einen Zebrastreifen würde ein Radar-Messwagen postiert. Der animiere die Autofahrer zu rücksichtsvoller und defensiver Fahrweise. Somit wäre ein sicherer Übergang gewährt.

Während der Busfahrt zum Start versucht Norbert krampfhaft die Strecke und insbesondere die Streckenänderungen zu erläutern. Mit seinen langen Armen zeichnet er riesengroße 180°-Bögen und erläutert anhand der Geografie: „Da oben kommt Ihr dann raus.“ Ein weiterer 180°-Schwenk: „Und da, zeig‘ ich Euch gleich, geht es dann weiter.“ Nächster Schwenk:“Früher sind wir ja da gelaufen, aber das geht jetzt nicht mehr.“ Schwenk zurück: „Da, da ist das, wo Ihr weiterlaufen müsst. Dann ist es aber auch nicht mehr weit.“ Riesenbeck Sixdays ist echt easy. Verstehe ich gar nicht, warum sich da Leute verlaufen…

Das Wetter bringt heute mal echte Abwechselung. Während es an den vergangenen Tagen bereits seit dem Morgen gießt, ist heute die Straße trocken und das Wetter, wenn auch kühl, einigermaßen erträglich. Dafür beginnt der Regen pünktlich zum Start. Bereits fünfzig Minuten vor der offiziellen Startzeit sin die meisten Läufer vor Ort und drängen sich unter ein Vordach auf dem Pausenhof der Dickenberger Schule. Regen, Wind, Temperaturen kaum über 12° Celsius und ein Großteil der Teilnehmer steht in kurzen Hosen und ärmellosen Shirts wartend herum. Die meisten haben auch noch echte, knackige Ausdauerläuferfiguren. Kein Gramm Fett zuviel. Wie halten die das bloß aus? Ich verkrümele mich lieber auf die Toilette. Der Heizkörper bleibt zwar kalt aber wenigstens ist es trocken und es pfeift kein Wind. Das Ambiente mit dem speziellen Odeur ist allerdings auch nicht sonderlich einladend. Einige Teilnehmer nutzen den Vorraum noch für letzte Vorbereitungen. Da werden Zehen abgeklebt, Vaseline auf delikate Stellen verteilt und Startnummern befestigt. Währenddessen staut sich eine beachtliche Schar vor den Klokabinen. Mit fortschreitender Zeit nimmt die Intensität des Geruchs beachtlich zu. Unglaublich, dass es ein Mitläufer schafft, sich angesichts dessen, ohne Rührung, noch eine komplette Banane einzuverleiben. Mahlzeit!

Langsam zieht auch dieser Schauer vorbei und fünf Minuten vor dem Start ist fast kein Regen mehr zu spüren. Ich friere jämmerlich und so ist der Start fast eine Erlösung, als die körperliche Belastung kommt und zumindest das Gefühl von Wärme sich breit macht. Das hält aber nicht lange vor, dann folgen weitere Schauer und bevor der Schweiß die Laufklamotten von innen durchtränkt hat, schafft das der Regen von außen. Auf den ersten beiden Kilometern kann ich noch ganz gut mithalten, aber dann wird der Abstand zu den Vorauslaufenden zusehends größer. Bald schon hat mich Margarete eingeholt und mit ihr kommt auch der unvermeidliche Radnachfahrer. Diesmal ist es nur einer. Deshalb ist zumindest bei den schönen Waldabschnitten Ruhe. Etwas Laufgenuss ist doch möglich, obwohl mir das Wetter seit Tagen auf ’s Gemüt schlägt. Margarete gibt mit einer weiteren Läuferin den Ton an und kann sich bald wieder absetzten. Besonders die langen, flachen Passagen auf den asphaltierten Straßen machen mir zu schaffen. Manchmal sind da auch noch leichte bis mittlere Steigungen dabei. Das ist nicht meine Welt. Selbst wenn Margarete so eine kurze Steigung geht und ich laufe, komme ich kaum an sie heran. Aber auch diesmal lösen sich die asphaltierten Wege häufig mit schönen Waldrouten ab. Insbesondere wenn es bergab geht, können die beiden Läuferinnen nicht mithalten. Margarete erläutert mir, dass sie sich einmal die Hand gebrochen hat, als sie auf einer Gefällstrecke gestürzt ist. Seitdem hat sie etwas Manschetten davor und geht lieber langsam bergab.

An einer Kreuzung kann ich Margarete gerade noch mit dem Radnachfahrer zurückpfeifen. Sie war falsch abgebogen und muss jetzt fünfzig Meter zurücklaufen. Im Großen und Ganzen ist die Auszeichnung der Strecke aber hervorragend und man hat nicht allzuviele Chancen, sich zu verlaufen. Außerdem hatten wir ja von Norbert klare Anweisungen zum Streckenverlauf bekommen.

Nach etwa zweidrittel zurückgelegten Weges kommen wir an die ehemalige Bundesstraße, die der Grund für die Streckenverlegung war. In der Tat steht vor dem Zebrastreifen ein getarnter Radarmesswagen mit Siegburger Nummer. Alle Autofahrer kennen ihn offensichtlich und bremsen scharf ab. Allerdings steht auf der Gegenfahrbahn doch ein Polizist und unterstützt mit der Kelle. Während ich so gefahrlos die Straße überquere, bemerke ich, wie ein Lastwagenfahrer, der das eindeutige Signal des Polizisten wohl missverstanden hat und langsam über den Zebrastreifen rollt von eben dem Polizisten mit einer eindeutigen Handbewegung (verbale Übersetzung: Wohl bescheuert, oder?) zur Ordnung gerufen wird. Mir fällt nur spontan ein, dass so ein Signal eines Verkehrsteilnehmers gegenüber einem Polizisten einen vermutlich vierstelligen Betrag kostet.

Merkwürdigerweise waren mir von den Sixdays 2004 kaum mehr markante Streckenabschnitte des fünften Wettkampftages präsent. Erst jetzt zu Schluß, als es noch einmal durch den Wald geht, erinnere ich mich. Diesmal wird es aber richtig schlimm. Sobald es abwärts geht, lassen mir die beiden Ladies den Vortritt und fallen mit dem Radnachfahrer zurück. Meine forsches Angehen rächt sich aber fast. Der schmale Weg ist völlig verschlammt und durch vierhundert Läufer noch einmal richtig durchgearbeitet worden. Die Füße rutschen laufend weg und finden erst halt, wenn links oder rechts der Bewuchs anfängt. Auf einmal geht es steile drei Schritte bergab und mir gleitet erst der eine, dann der andere Fuß weg. Wild mit den Armen rudernd finde ich wieder die Balance und muss aber weiter beschleunigen, weil auf dem rutschigen Untergrund Bremsen gar nicht möglich ist. Noch ein- oder zweimal bin ich nahe an einem Sturz. Der wäre fatal im eigentlichen Wortsinn, da das Gelände auf der rechten Seite streckenweise einige Meter abfällt.

Irgendwie habe ich aber auch diesen Streckenabschnitt hinter mich gebracht. Es beginnt ein etwa zwei Kilometer langes Gefällstück, dass fast bis ins Ziel reicht. Ich kann noch einmal etwas freier laufen und hoffe, dass die beiden Damen, die ich jetzt so elegant im Dreck habe abhängen können, mich nicht mehr einholen. Einige der schnellen Läufer sind bereits auf der Rückreise und feuern mich beim Passieren durch lautes Hupen an. Ich hatte erst an eine türkische Hochzeit gedacht, aber dann wurde mir klar, dass die mich meinten. Einen Passanten, der mir applaudiert kann ich noch als Margaretes Ehemann identifizieren. Mit etwas besorgtem Gesicht fragt er mich: „Kommt sie noch?“ Ich kann ihn beruhigen: „Sie kommt gleich!“

Auf dem letzten Flachstück treffe ich noch zahlreiche Schlachtenbummler. „Ist nicht mehr weit.“ ist der übliche Trost. Erfreulicherweise hält man sich heute mit präzisen Längenangaben zurück. Im Gegensatz zu 2004 ist der Lauf heute nicht beim Einlauf in das Stadionoval beendet, sondern man hat uns dazu verdonnert, erst noch eine vierhundert-Meter-Runde zu drehen. Das geht auf der Innenbahn gar nicht, weil die von den schnelleren Läufern so aufgeweicht ist, das man nur durch roten Dreck läuft. Ich weiche also auf einer der äußeren Bahnen aus und so wird aus meiner 400-Meter-Runde eine 440-Meter-Runde. Das ist aber halb so schlimm, da ich beim Einbiegen auf die Gegengerade noch keine Verfolgerin ausmachen kann. Mein Vorsprung hat also gehalten. Erst als ich im Ziel bin, sehe ich Margarete einlaufen. So etwa zwei Minuten werde ich ihr abgenommen haben. Trotzdem bleibt wohl die rote Laterne bei mir. Ich trage das mit Fassung. Sind doch bereits wieder Läufer ausgeschieden. Einmal noch, dann gibt es die Medaille. Für morgen ist Dauerregen angesagt. Wir Rote-Laterne-Träger haben ein breites Grinsen im Gesicht und verabschieden uns wieder mit: „Bis morgen!“ Auch dann wird das Starterfeld wieder kleiner geworden sein.

Ergebnis: Platz 403 von 403 gewerteten Läufern (39 raus)

Riesenbecker Sixdays

Donnerstag, 25. Mai 2006

Tag 6, Von Ibbenbüren-Ost zurück nach Riesenbeck

Am letzten Tag kommt erstens alles anders und zweitens als man denkt. Da der Start bereits um 14.00h vorgesehen ist, hatten wir diesmal keine 24 Stunden Zeit für die Regeneration. Trotzdem ist die Stimmung unter den Teilnehmern gelöster als an den Vortagen. Das Ziel an dem wir uns alle für den Bustransfer zum Start versammeln, kennen wir ja bereits. Hier sind wir vor sechs Tagen gestartet und hier werden wir heute zurückerwartet. Noch einmal 25 Kilometer kündigt der Organisationsleiter Michael Brinkmann an. Die Busse stehen pünktlich bereit und nehmen uns mit dem Ziel Ibbenbüren auf. Da Norbert heut nicht dabei ist, um in unnachahmlicher Weise die Streckenführung zu erläutern, übernimmt das eine Kollege von Marathon Steinfurt. Mit weit ausholenden Armbewegungen zeigt er den Übergang über den Kanal bei Bevergern und die zu laufenden Streckenabschnitte im Wald. Sehen kann man die jetzt nicht, aber plastisch beschrieben wird es. Das ist wohl ein ähnliches Ritual, wie bei den Bobfahrern, die kurz vor dem Start noch einmal mental die Strecke durchgehen.

In Ibbenbüren regnet es nicht und die Temperaturen sind erträglich. Die dreiviertel-stündige Wartezeit ist nicht so ätzend wie gestern. Es sind viel mehr Angehörige bei den Läufern – es ist eben das Finale. Pünktlich um 14.00h fällt der Startschuss und es geht los. Ich lasse mich hängen, da ich auf Dauer sowieso nicht bei den schnelleren mithalten kann und passiere bereits nach etwa 500 Metern einen Läufer, der allerdings geht. Etwas derangiert stiere ich im Vorbeilaufen auf seinen Bauch, um festzustellen, ob er eine Startnummer hat und überhaupt zum Teilnehmerfeld gehört. Er hat eine Startnummer! Wieder einer weg. Ich wundere mich nach zwei Kilometern, dass mich zwar Margarete inzwischen passiert hat, dass ich aber den Nachfahrer nicht ausmachen kann. An einer Einmündung, die durch Helfer gesichert ist, steht bereits wieder ein Teilnehmer und diskutiert mit den Helfern. Offensichtlich haben jetzt bereits zwei weitere Läufer aufgegeben. Es geht mir jetzt nicht mehr richtig schlecht, obwohl noch über zwanzig Kilometer vor mir liegen.

Nach etwa fünf Kilometern hat sich Margarete bereits wieder einige hundert Meter abgesetzt. Auf den langen, geraden Strecken kann ich sie immer vor mir ausmachen. Plötzlich höre ich die typischen Geräusche von langsam rollenden Fahrradreifen hinter mir.

„Hallo!“ begrüßt mich der Nachfahrer. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Dich. Welche willst Du zuerst hören?“

„Die schlechte kenne ich.“ ist meine knappe Antwort. „Ich bin letzter“ bin ich mir sicher.

„Nein, das ist die gute Nachricht: Du bist nur vorletzter! Aber die schlechte Nachricht ist, dass ich ab jetzt bei Dir bleibe.“

Es stellt sich heraus, das sich der gehende Sportsfreund aus den Niederlanden beim Start eine Zerrung zugezogen hat, die Strecke aber gehenderweise absolvieren will. Da das eigentlich nicht zulässig ist, muss er nun auf eigenen Faust zurück nach Riesenbeck. Ich habe – mal wieder – Begleitung. An einer Getränkestation geht ein Helfer mit zwei Bechern in der Hand neben mir her, damit ich für die Flüssigkeitsaufnahme keine Zeit verschwende. Jetzt wo es wieder bergiger wird, gelingt es mir, die drei vorauseilenden Läufer, unter ihnen Margarete, einzuholen. Ich wundere mich, dass es so gut läuft. Immerhin waren da schon einmal so zwischen drei- bis vierhundert Meter Vorsprung drin. Endlich geht es bergab. Meine Stunde. Margarete räumt mit den anderen das Feld und ich kann es auf der rutschigen, steilen Buckelpiste endlich mal gehen lassen. Bald höre ich die anderen nicht mehr. Sie sind weit hinter mir und der weiche Waldboden schluckt die Geräusche. Als Realist weiß ich aber, dass die letzten Kilometer flach sind. Mein Vorsprung wird nicht ewig halten.

Am nassen Dreieck, wo sich der Mittelland- und der Dortmund-Ems-Kanal treffen, bietet mir eine Helferin ein Isogetränk an. Als ich ihr den leeren Becher hinhalte schaut sie etwas verunsichert. „Gibt ’s nichts mehr?“ frage ich ebenfalls unsicher, sehe aber ein jungfräulich verschweißtes Sixpack unter dem Tisch. Jetzt wirbelt die Gute los und reißt nervös die Packung auf. Nach dem sie mir den Becher gefüllt hat, nehme ich ihr kurzerhand die Flasche ab und schütte einen halben Liter Flüssigkeit in mich hinein. „Meiner ganzer Vorsprung ist hin“, stöhne ich noch. Dann laufe ich weiter. Kurz bevor die Bergstrecke zu Ende war, hatte ich noch ein gelbes Schild an einem Baumstamm gesehen. Ich hatte es erst für eine Waldbrandwarnung gehalten. Beim Näherkommen konnte ich den Text aber deutlich lesen: ‚Noch 10 Kilometer‘. Die letzten zehn Kilometer sind vermessen und beschildert. Dann weiß man wenigstens, was noch auf einen zukommt.

Die Beine werden aber jetzt immer schwerer. Die Strecke ist eben und ich befürchte, dass mir die Verfolger bereits wieder im Nacken sitzen. In Bevergern muss ich mir auf die Schultern klopfen lassen. „Du hältst aber durch?“ wird nicht zum ersten Mal heute die Frage an mich gerichtet. „Aber immer, keine Frage!“ lautet meine lakonische Antwort; auch nicht zum ersten Mal.

Zehn Kilometer seien doch nur eine mäßige Trainingsstrecke, rede ich mir ein. Ab neun Kilometer warte ich sehnsüchtig auf die sieben. Gut sieben Kilometer ist unsere kurze Trainingsstrecke im Sindelfinger Wald. Das geht jetzt auf der ebenen Route auf einer A…backe. Allerdings kann ich meine Hüftknochen kaum noch spüren.

Ich warte auf die fünf. Bei fünf Kilometer denke ich mir, dass das meine ganz kurze Trainingsstrecke zuhause ist, die ich ja schon seit Jahren nicht mehr laufe. Fünf Kilometer sind zu kurz, um richtig warm zu werden. Panisch suche ich die Bäume am Horizont nach einem Dach ab. Ich weiß, dass es ab der Surenburg nur noch drei Kilometer sind. Aber das Dach der Surenburg kann ich nicht entdecken. Die Bäume wachsen zu dicht.

Bei einem Richtungswechsel auf einer kleinen Brücke über einen Entwässerungsgraben werfe ich kurz einen Blick über die Schulter und sehe meine Verfolger. Jetzt nach über acht Kilometern haben sie endlich aufgeholt. Sollen sie doch. Während wir um die Surenburg herumlaufen, gehen die ersten ‚ehemaligen‘ Verfolger bereits vor mir in Führung. An der Getränkestation sind es bereits dreißig Meter Vorsprung. Als ich kurz anhalte und einige Becher Isogetränk hinunterstürze, steht plötzlich Margarete neben mir. Nur noch zweieinhalb Kilometer raunt mir eine Helferin verschwörerisch zu. Ich wundere mich. Sollte ich das drei-Kilometer-Schild übersehen haben? Fünfzig Meter weiter wartet es an einem Baumstamm. Wiederum hat es eine ominöse, harrypottermäßige Streckenverkürzung gegeben. Aber vermutlich wollte die Helferin mich nur moralisch aufbauen. Das war aber auch dringend notwendig.

Als untrügliches Zeichen dafür, dass ich die rote Laterne trage, habe ich jetzt wieder Sascha auf dem Mountain-Bike am Hacken. Er zeigt mir das Elternhaus eines Läufers, der gestern mit dem Verdacht auf Bänderriss ausgeschieden ist. Als Gegenleistung erläutere ich ihm, dass ich zwar aus Kirchheim unter Teck komme, aber in Lengerich aufgewachsen bin. Das mich die landsmannschaftliche Bindung zu den Riesenbecker Sixdays gebracht hat, beruhigt ihn ungemein; macht die Strecke aber auch nicht einfacher. Bald zeigt er mir sein Elternhaus, einen stattlichen westfälischen Bauernhof. Er würde mich gerne auf eine Tasse Kaffee bei seinen Eltern einladen, verkündet er generös. Aber ich würde vermutlich lieber bald im Ziel sein, relativiert er sein Angebot gleich wieder. Ich habe nur Augen für eine alte Buche vor dem Bauernhof. ‚Noch 1 Kilometer‘ kündet das Schild an.

Sascha macht mir Mut und hilft wo er nur kann. Zwölf Meter Höhenunterschied seien noch zu überwinden. Margarete, die bereits seit einigen hundert Metern von ihrem Mann begleitet wird, geht. Ich laufe. Beim Einbiegen auf die Hauptstraße grinsen nicht nur die Läufer. „Nur noch bergab!“ heißt es gleich mehrmals von den Helfern. Vermutlich sind die jetzt genauso froh wie die Teilnehmer, dass die Tortur ein Ende hat. Auf den letzten hundert Metern ist Margarete platt. Ich kann noch eine Art Spurt hinlegen und unter lautem Applaus aus der Menge zu Margarete aufschließen. „Du läufst glatte zwölf Stundenkilometer“ nehme ich noch Saschas Hinweis wahr, dann biege ich auf die Zielgerade ein.

Jetzt Margarete noch weglaufen zu wollen wäre lächerlich, da sie ja sowieso über zwei Minuten Vorsprung hat. Kurz vor der Matte drehe ich mich um. Sie läuft noch einen halben Schritt hinter mir. Ich kriege sie an der Schulter zu fassen und schiebe sie sanft vor mir über die Ziellinie. So gefalle ich mir selbst am Besten. Später muss ich der Ergebnisliste leider entnehmen, dass es nicht geklappt hat. Offensichtlich haben wir die Matte der Zeitnehmer so unglücklich passiert, das Margarete eine Sekunde nach mir gewertet wird.

Eine Medaille bekomme ich gleich umgehängt und ein Finisher-T-Shirt in die Hand gedrückt. Der Lohn für vierzehn Stunden Schufterei. Nun gut, andere haben dafür weniger als acht Stunden schuften müssen. Dezent werden Margarete und ich darauf hingewiesen, bei der abschließenden Show mit auf die Bühne zu kommen. Da ich nichts zum Wechseln dabei habe, bleibt mir nichts weiter übrig, als die zwanzig Minuten bei Cola, Wasser und Orangenschnitzen zu warten.

Dann werden wir zur Bühne gerufen. Ich warte etwas im Hintergrund und kann so erst einmal einen Blick auf die Sambatruppe werfen. Die Männer interessieren mich weniger. Die Damen schon eher. Für die frischen Temperaturen knapp gekleidet, zittern sie mit ihren Sambaschrittchen umeinander. Ihre Figuren sind ähnlich üppig wie meine, nur ist die Üppigkeit deutlich vorteilhafter verteilt. Der Teint ist brasilianisch milchschokoladenbraun und außerordentlich appetitlich. Dieses Samba-Rumgehampel macht mich aber nervös. Endlich geht es los. Alle auf die Bühne (Margarete ist leider verschwunden) und dann Danksagung, Glückwünsche an die beiden Sieger und eine Flasche Wein von der Ortsvorsteherin von Riesenbeck an mich. Ich sei ja, so führt sie aus, der lebende Beweis dafür, dass teilnehmen wichtiger als siegen sei. „Danke sehr“, sage ich artig und überlege mir, ob es nach sechs Tagen Laufen morgen nicht langweilig wird.

Endergebnis: Platz 397 von 397 gewerteten Läufern (45 raus)

Resümee:

Letzter in einem Wettkampf zu werden, ist ja nun wirklich keine Großtat und es ist mir in meiner Läuferkarriere seit 2002 auch tatsächlich heute zum ersten Male gelungen, bei einem offiziellen Wettkampf das Schlusslicht zu sein. 2004 bin ich besser gelaufen, hatte mich besser vorbereitet und vor allem: ich wog weniger. Allerdings war ich deswegen auch nicht glücklicher. Bei aller Selbstkritik sei aber angemerkt:

Viele sind es nicht, die es auf sich nehmen, sechsmal an aufeinanderfolgen Tagen jeweils eine Halbmarathonstrecke hinter sich zu bringen. Und selbst von denen, die es bei den Riesenbecker Sixdays versucht haben, haben am Ende gute zehn Prozent das Handtuch geworfen. Neben den Verletzungen dürfte das ausgesprochen bescheidene Wetter ein Übriges getan haben. Es gehört schon eine gewisse Portion Masochismus dazu, sich sechs Tage lang bei Wind und Regen eine Stunde nach draußen zu stellen, um auf den Start zu warten. Ich habe durchgehalten und das war es wert. Über 470 Läufer hatten sich angemeldet. Am ersten Tag sind 442 ins Ziel gekommen und 397 sind am sechsten Tag übriggeblieben. Ich war einer davon.

Da wo man Schwächen zeigt, muss man den Besseren neidlos den Vortritt lassen. Da, wo man Stärken hat, rennt man los und gibt den Schwächeren vielleicht noch einen Tipp. Seine Ressourcen teilt man sorgfältig ein, behält aber immer das große Ziel im Auge. Wenn man sich dazu entschlossen hat etwas anzufangen, beendet man es auch und bricht nicht ab, bloß weil das Wetter gerade nicht passt. Zuspruch und Anerkennung gibt es für jeden der mitmacht und durchhält. Jeder der die Tagesetappe schafft, hat Großartiges geleistet. Jeder der am Schluss durchgehalten hat, ist ein Sieger. Insofern ersetzt dieser Wettkampf glatt ein Management- und Vorgesetztenseminar. Schade, dass kaum Vorgesetzte und Manager teilnahmen.

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Written by arneschuster

11. März 2008 at 23:44

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Tough Guy 2008

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Arne Schuster

Tough Guy 2008

Der einzig ehrliche Bericht

Glänzende Augen bei einigen, fragende Gesichter bei anderen. Wer frank und frei erläutert, dass er demnächst beim Tough Guy startet, muss mit diesen beiden Reaktionen rechnen. Mittlerweile hat die Veranstaltung in der Nähe Wolverhamptons Kultstatus erreicht. Eine abgedroschene Vokabel, zugegeben. Aber wenn sich etwas mehr als 20 Jahre lang hält, im Gedächtnis bleibt, in den Köpfen spukt, Jahr für Jahr mehr Begeisterte anzieht und von allen Medien regelmäßig bedacht wird – dann ist das Kult.


So, bei den glänzenden Augen des Gesprächspartnern muss man gar nicht weiter erzählen. Er hat also schon davon gehört, er hat es gesehen, er hat sich seine Gedanken gemacht. Verklärt als ‚härtester Lauf der Welt‘, werden die Tough Guys weniger als Sieger, sondern mehr als ‚Überlebende‘ gesehen. Aspiranten die da hin wollen, haben bestenfalls den Status ‚todesmutig‘, anderenfalls gehen sie als total beknackt durch – aber diese Wertung ist offensichtlich selten.


Beim fragenden Gesicht des Gegenübers wird es schwieriger. Laufen, Wasser, Schlamm, England, Januar und ähnliche Vokabeln helfen dann meist auf die Sprünge. Irgendwo auf einem der zahlreichen Privatsendern und in einem der noch zahlreicheren Boulevardmagazinen hat er das auch schon einmal gesehen; aber nie gedacht, mal so einen Hirni tatsächlich zu Gesicht zu bekommen.


Aber mit solchen Gedanken müssen sich eigentlich nur die Erstteilnehmer, die Newbies oder Rookies auseinandersetzen. Als Wiederholungstäter stehe ich über den Dingen und muss mich auch nicht mehr rechtfertigen. „Ich bin am Wochenende in England!“. Die Aussage genügt, meine Kollegen wissen Bescheid.


Bevor der Mythos (v)erklärt wird, ein paar harte Fakten: Man ist unter sich. Nein, es geht nicht um die mentale Konstitution, sondern um das soziale Umfeld. So ein Tough-Guy-Wochenende kommt mit Anmeldegebühr, Flug, Leihwagen, Hotel und Verköstigung, auch bei bescheidenen Ansprüchen, locker auf etwa 500€. Der alleinverdienende Familienvater kann damit eine Woche Campingurlaub locker bezahlen. Also trifft man in England hauptsächlich auf mittelalte, besserverdienende Singles oder Dinkies (double income – no kids). Andere Altersgruppen und soziale Schichten stellt dann lediglich das regionale Publikum. Und obwohl beim Tough Guy jede Menge bunter Nationalflaggen wehen, sind auch schnell die ethnischen Fragen geklärt. Wer nicht Engländer ist, taucht am Sonntagmorgen in blau-weißer Kriegsbemalung und Kilt auf (in diesem Fall keine Schalke-Fans, sondern nationalistisch gestimmte Schotten) oder hat irgendwie einen roten Drachen dabei (Waliser). Ein paar versprengte Iren (rote Perücke, aufgemalte Sommersprossen) sichtet man hie und da auch. Echte Ausländer gibt es auch – aber beim Abholen der Startnummern am Samstagmorgen ist Deutsch mehr oder weniger die Amtssprache (in selteneren Fällen mit österreichischem Einschlag). Franzosen, Tschechen, Spanier und andere Nationen sind eher als – liebevoll tolerierte – Randgruppen zu sehen. Am Ende sind wir alle – Briten. Und damit schließt sich der Kreis und der Tough Guy hat sich, ähnlich wie die ‚Last Night of the Proms‘ von einer nationalen Eliteveranstaltung zu einem international geachteten, multikulturellem Megaevent unter britischer Leitung gemausert.


In vielen Dingen ist so ein Tough Guy Rennen auch nicht anders als jede große Volkssportveranstaltung. Am Samstagmorgen holen wir die Startnummern ab. Diesmal bringt uns das mitgebrachte Navi zielsicher durch den Linksverkehr nach Perton. Von Perton sieht man wenig. Der Veranstaltungsort liegt eher außerhalb; in einer Landschaft voller sanfter Hügel. Die Winter in England sind im Allgemeinen milder und damit auch weniger trostlos als bei uns in Mitteleuropa. Die Koppeln sind noch grün. Wir parken auf den bereits abgesperrten aber noch völlig leeren Parkplätzen und gehen in Richtung Farm.


Die Eingeweihten wissen es natürlich. Billy Wilson, der Veranstalter (aus nicht näher bekannten Gründen lässt er sich als Mr. Mouse titulieren) lebt auf einer großen Farm, die als Altersheim für Pferde und andere Tiere dient. In der westlichen Leistungsgesellschaft ist Altruismus meistens mit dauernder Geldmittelknappheit verbunden und so kam Mr. Mouse vor mehr als 20 Jahren auf die Idee, seine Gnadenbrotfarm durch eine Sportveranstaltung zu sponsern.


Bis dahin noch keine besondere Idee – hat er dann seine Leidenschaft (Ausdauersport) mit seinem ehemaligen Beruf (Armeeoffizier) verbunden. Anstatt die Leute in einen simplen Halbmarathon zu schicken, hat er ähnliche Hindernisse auf seiner Farm aufgebaut, wie er sie etliche Jahre auch bei der Armee für die Ausbildung der britischen Elitetruppen erdacht und aufgebaut hat. Und das war der Anfang von Mythos und Kult. Insofern tut die gepfefferte Anmeldegebühr von an die 100 GBP auch nur bedingt weh. Nach seinen eigenen Angaben wird etwa die Hälfte des Geldes für die Organisation der Veranstaltung genutzt, die andere Hälfte kommt der Farm und somit den alten und kranken Tieren zugute. Die, im übrigen, auch zum Teil von behinderten Menschen betreut werden.


Alte, kranke Pferde und alte, kranke Hunde riechen nicht gut. Auch alte und kranke Schafe riechen nicht gut. Die Tümpel auf dem Tough Guy Gelände sind mit einer braun-grünen, brackigen Brühe gefüllt und riechen auch nicht gut. Deshalb riecht es auf der Farm nicht gut. Besser, man gewöhnt sich schnell daran. Morgen riechen wir alle nicht mehr gut.


Im vergangenen Jahr haben wir die einzelnen Abschnitte des Tough Guy noch genau inspiziert. Unerfahren wie wir waren, vermeinten wir, noch die Strategie ändern zu müssen und noch ein paar taktische Finessen herauszuknobeln zu können. Mein Puls ist heute kaum bei 70 Schlägen pro Minute. Coolness kommt aber ganz von alleine, wenn man bedenkt, dass die Wassertemperatur kaum höher als 6°C sein dürfte. Immerhin haben wir Januar. Real ist die Wassertemperatur wohl gerade mal bei 4°C, der Trick ist aber einfach: langsam laufen. Wenn erst einmal 2.000 Läufer durchs Wasser durch sind, gehen die Temperatur leicht noch einmal 2-3°C rauf.


Aber auch hier sprechen die Fakten gegen den Mythos. Auf der Homepage des Tough Guy lässt sich nachlesen, dass letztmalig im Winter 1998 Eis auf den Tümpeln war und Raureif die Wiesen überzuckerte. Der Tough Guy Wahlspruch: ‚With snow and ice it’s twice as nice‘ bleibt daher ein Wunsch. Für den Nachmittag haben wir uns das ‚Black Country Museum‘ vorgenommen. Tough Guy ist morgen. Das Navi führt uns durch die offensichtlich schönsten Ecken des Black Country. Durch ganz enge Landstraßen tuckern wir an verstreuten Farnen vorbei. Der Himmel ist blau und die Landschaft strahlt im Licht der flach am Himmel stehenden Sonne. England ist selbst in diesem äußerst dicht besiedelten Landstrich wirklich schön.


Und jetzt mal schnell zum Schönsten am Tough Guy: Drei Abende in englischen Pubs. Kneipenkultur in England gibt es! In Deutschland ja eher weniger. Das Rauchverbot war hier weniger kompliziert durchzusetzen. Die Bierauswahl ist ungewohnt reichlich und das Essen – das ist jetzt schon trivial – bei weitem besser als der Ruf. Spätestens seit Jamie Oliver sind es nur noch die Deppen, die englische Küche mit einer stupiden Gleichförmigkeit kritisieren. Sicherlich ist ein Pub – zumal wenn es zu einer Kette gehört – kein Feinschmeckerlokal. Aber Bitter und Barfood haben ihren Charme. Im Übrigen kann man sich überall und jederzeit an indische oder chinesische Lokale halten. Die Zuwanderung aus Asien führt zu einem reichhaltigen Angebot an internationaler Restaurants.


Der Samstagabend wird dann auch nicht bis zum Exzess ausgeweitet, da ja am nächsten Morgen noch der Tough Guy überstanden sein will. Überstanden sein will! Ja wirklich! Mehr Anspruch habe ich nicht, oder mehr Ehrgeiz. Es gibt seit Beginn keine objektive Zeitnahme. Da die wenigen Wege, die sonst nur mit Traktoren befahrbar sind, bedingen, dass mehrere tausend Teilnehmer in zeitlich getrennten Pulks starten, ist ein echter Wettkampf sowieso nicht möglich (Huch, bei aller notwendigen Selbstkritik: Diese Satzkonstruktion erinnert entfernt an Kleist oder Kafka). Wer vorne dabeisein will, bezahlt bis an die 200 GBP Aufpreis (auf die eh schon hohe Startgebühr) und ist dann in der ‚Front Squad‘. Alle anderen sind später. Und überholen ist schwierig, auch für die guten, durchtrainierten und ambitionierten Läufer.


Am Sonntagmorgen hat dann keiner Probleme, zeitig aufzustehen. Frühstück muss sein. Halt! Halt! Halt! Das war das Stichwort. Es gibt eine Herausforderung, die sprengt selbst die knallharten Prüfungen des Tough Guy: Britische Hotels. Meine Güte. Beim letzten Male war ich wenigstens so schlau und hatte ein Holiday Inn gewählt. Bei einer großen Kette kann man nicht soviel falsch machen, die haben ja internationale Standards. Aber diesmal musste ich anders buchen, da das Holiday Inn ausgebucht war und es lag sowieso etwas ungünstig. The Fox war deutlich zentrumsnäher und bezahlbar. Es stellte sich als völlig heruntergwirtschaftete Halbruine heraus, die wohl vor nicht allzu langer Zeit von einer indischen Familie übernommen worden ist. Die nette Familie hat sich dafür vermutlich völlig verschuldet, so dass für dringend notwendige Reparaturen kein Kapital mehr da war. Klasse. Meine Vorhänge waren nicht zu schließen; die Röllchen an der Vorhangleiste herausgerissen und verrostet. Dafür war ich dann in ‚The City that never sleeps‘. Neu war für mich, dass es sich dabei um Wolverhampton handelte. Jedenfalls schien die ganze Nacht die Straßenbeleuchtung der Ring Road in mein Zimmer und tauchte alles in B-Movie-artiges schmutzig-orange-rosa Licht. Als ich in der Nacht aufwachte, habe ich es zunächst irrtümlich für die Dämmerung gehalten. Ein Blick auf die Uhr klärte mich auf. Ich fiel in das Bett zurück und dämmerte – wie die Außenbeleuchtung – dem Morgen entgegen.


Zurück zum Frühstück am Sonntagmorgen (unser zweites in der Nobelherberge): Handgewaschenes Geschirr mit diesem grauen Schwarzteefilm in den Tassen, den nur ökologisch-fanatische-Terror-Teegenießer akzeptieren (auf keinem Fall die Tassen waschen – nur ausspülen wegen des unverfälschten Teearomas…?). Toast und Full English Breakfast aus der indischen Exilküche. Da kann der Tough Guy ja kommen.


Heute Morgen ist der Verkehr in Perton dichter. Viele Autos sind schon zwei Stunden vor dem Start auf den Parkplätzen und wir suchen uns gleich unseren Platz zum Umziehen. Jetzt zum ersten Geständnis, es soll ja laut Ankündigung ein ehrlicher Bericht sein. Wir sind eigentlich gar keine richtigen Tough Guys. Wir sind nur so halbechte Tough Guys, eben so nicht ganz so richtig toughe Guys. Wir haben uns nämlich Neopren-Shorties gekauft. Gibt ’s im Decathlon für die Weichei-Surfer, denen im Früh- und Spätsommer das Nordseewasser zu kalt ist. Es sind die ganz dünnen Neoprenanzüge mit kurzen Armen und Beinen und die kosten kaum 20€. Damit wird der Tough Guy dann aber auch zur Spaßveranstaltung und verliert den religiösen Charakter einer Selbstkasteiung. Allerdings sind wir nicht alleine. Schätzungsweise die Hälfte aller Teilnehmer trägt das Neopren offen oder delikat versteckt unter weiter Laufkleidung. Spätestens seit meinem ersten Zieleinlauf vor einem Jahr weiß ich, dass die echten Tough Guys eher mitleidig belächelt werden, wenn sie den angeboten Tee verschütten oder kaum die Finger in den Hosenbund bekommen, um die nassen Klamotten loszuwerden. Parkinson ist eine kleine Erkältung im Verhätnis zu den Zitter- und Schüttelattacken, die neoprenlose Mitstreiter während des Rennens oder im Zielbereich erleiden.


Jetzt zu Lauf selbst: Ausländer zahlen etwas mehr, gehören dafür aber zur Startgruppe ‚Wisitors‘ und sind damit beim Start fast ganz vorn. Lediglich die ‚Front Squad‘ und die ‚Tough Guys‘, die deutlich mehr gelöhnt haben, dürfen vor allen anderen starten. Zwischenzeitlich werden einige Zeitgenossen von Marshalls aus der Menschentraube gezogen und hügelaufwärts getrieben (!). Dort stehen ein paar Pranger bereit und da müssen diejenigen den Start erleiden, die gemogelt und vorgedrängelt haben. Die meisten wissen aber um das Risiko und erdulden die mittelalterliche Strafe demütig. Den Kanonenböller zum Start hatten wir gar nicht gehört. Auf einmal setzen sich einige hundert Menschen vor und einige tausend hinter uns in Bewegung, es geht um den Hügel und mit einem Schlachtgebrüll los, als würden die Normannen zum zweiten Mal ins angelsächsische Hastings einfallen. Die Tough Guys starten in die Country Miles.


Die Country Miles sind die eigentliche sportliche Herausforderung. Es geht mehrere Kilometer durch das Tal bei Perton. Dabei müssen Waldstücke durchquert, Gräben überwunden und Zäune oder Absperrungen um- oder überlaufen werden. Die Grafik mit der diesjährigen Strecke hatte uns bereits skeptisch gemacht. Die Strecke schien um etliches kürzer als im vergangenen Jahr und wichtige Hindernisse waren nicht mehr im Plan. Nach dem Lauf klärte sich auf, dass ein Nachbar (wie man hört aktives Gemeindemitglied der örtlichen Kirche), am Erfolg der Veranstaltung partizipieren wollte und für jeden gemeldeten Läufer 2 GBP verlangte, damit sein Gelände genutzt werden durfte. Wie sich dann noch später herausstellte, hatten am Vorabend oder frühmorgens noch einige Witzbolde das Flatterband für die Absperrungen der Laufstrecke umgeknotet, so dass nochmals ein bis zwei Meilen fehlten. Damit wurde diese Veranstaltung zum schnellsten Tough Guy aller Zeiten mit einer Siegerzeit von unter einer Stunde. Kurz waren die Country Miles bestimmt, anspruchsvoll war es dennoch. Ein Hügel diente als Hindernis, das etwas abwertend lediglich als ‚Slalom‘ tituliert wird. Tatsächlich musste man sieben Mal den Hügel hoch und wieder herunter laufen. Es war steil, so steil dass man sich teilweise aufrecht stehend mit den Armen am Gelände abstützen konnte. Einige der engagierteren Kameraden haben sich dann auch gleich so gefordert, dass sie aus Überanstrengung ihr Frühstück erst einmal rückwärts in die Landschaft platzieren mussten. Beim Abwärtslaufen hat es den einen oder anderen erwischt, der sich im leichteren Fall eine satte Bänderdehnung, im schwereren Fall einen Bänderriss zugezogen hat. In jedem Fall stand eine ausreichend große Mannschaft der St. John’s Ambulance zur Verfügung, die sich professionell um alle Ausfälle kümmerte. Aber das war es schon fast mit den Country Miles. Es folgte ein Abstecher in kleines Wäldchen in denen mehrere gleichartige Hindernisse aufgebaut waren. Ein paar Strohballen, die überquert werden sollten und niedriggespannten Netzen, die man unterlaufen musste. Alles mit einer halbwegs sportlichen Grundkonstitution machbar. Der Neoprenshorty ist hier fast hinderlich. Wer deutlich unter 1,80 Körpergröße aufweist, braucht viel Sprungvermögen und hat (später) mehr Schwimmstrecken zu absolvieren. Bald folgen schon die ersten Wassergräben, die einen recht kontinuierlich auf das Kommende vorbereiten. Erstmal Wasser bis zum Knöchel und nasse Socken. Dann bis zum Knie, zur Hüfte und dann ist der Neoprenshorty echt klasse….


Und jetzt geht der Tough Guy richtig los; jetzt folgen die Killing Fields. Das ist der Teil der Veranstaltung, der den Mythos und den Kult ausmacht. Leider rührt das vermutlich daher, dass in den vergangenen Jahren die Veranstaltung wohl eher ein Opfer der Privatsender geworden ist. Sicherlich zelebriert auch Mr. Mouse den Mythos indem der die Hindernisse mit martialischen Namen belegt und verbal immer eine Verbindung zu Krieg und Militär geschaffen wird. Aber die Veranstaltung ausschließlich vor diesem Hintergrund zu sehen, ist eine unzulässige Simplifizierung und Fehldeutung. Das ist wohl eher dem Umstand zu verdanken, dass der englische Humor eben ein anderer Humor ist.


Es beginnt mit dem Tiger. Ein etwas 6 bis 8m hohes zweiteiliges Holzgerüst, das man überklettern muss. Wer Höhenangst hat, ist schlecht dran. Aber man kann sich festhalten und durch eine Verbreiterung, die im vergangenen Jahr hinzugefügt wurde, drängelt sich jetzt nicht alles an der Spitze und man kann Klettern, ohne Gefahr laufen zu müssen, einen Schuh ins Gesicht zu gekommen. Zwischen den beiden Gerüsten ist ein Abschnitt, der mit einer Art Elektrozaunvorhang versehen ist.


So wechseln sich zu überkletternde Gerüste und schlammige Tümpel ab. Ein Gerüst – sinnigerweise mit reichlich schwarz-rot-goldenen Flaggen verziert, nennt sich Brandenburg Gate. Einige Tümpel sind durch brennende Heuhaufen verbunden, die aber den völlig durchnässten Tough Guys nicht wirklich gefährlich werden. Zwei Höhepunkte gibt es, die vermutlich zum besonderen Nimbus des Rennens ganz besonders beigetragen haben:


Bei den Underwater Tunnels ist wirklich Schluss mit lustig. Hier ist eine Brücke über einen der tieferen Tümpel so angelegt, dass man zwingend mit dem Kopf unter Wasser muss. Bis hier hat der Neoprenaszug alles wirklich erträglich gemacht. Die Kälte an den ungeschützten Armen und Beinen ist akzeptabel, solange man sich bewegt. Aber das ungeschützte Gesicht mit den zahlreichen Gefäßen und Nervenbahnen lässt einen jetzt den Tough Guy spüren. Selbst die knappe Sekunde, die der Kopf unter Wasser taucht wenn man den ersten Balken unterquert, reicht aus, um einem die Luft zu nehmen. Viele brauchen lange Sekunden in der eiskalten Brühe, bis sie soweit zu sich gekommen sind, dass sie den zweiten und dann den dritten Balken tauchend bezwungen haben. Mir sind die Tränen gekommen. Mein Gesicht schien zu platzen. Es war einfach furchtbar. Erfreulicherweise setzt die Temperaturregelung der Warmblüter ein und kurze Zeit später kann man sich wieder in die Kette der Hindernisläufer einreihen. Nach dem Brandenburg Gate erwartet uns dann noch die Death Plank. Man springt vom 3m-Brett. Aber eben bei 11°C Außentemperatur in das 4°C ‚warme‘ Schlammwasser. Wieder Wasser über den Kopf, aber nur ganz kurz und dann mit ein paar Schwimmzügen an Land. So, das war der Tough Guy. Der ist zwar noch nicht zuende. Aber wer die Underwater Tunnels und den Sprung überstanden hat, ist durch das Gröbste durch. Der Stalag Escape ist noch einmal eine echte körperliche Herausforderung. Man robbt wie in Wehrdienstzeiten unter dem niedrig gespannten Stacheldraht. Hintern runter (der Draht ist wirklich niedrig gespannt) und mit dem Bauch durch den Dreck. Die eine oder andere Klinke ist dann doch in der Hose oder im Shirt. Der Neoprenshorty schützt auch an diesem Hindernis vor größeren Blessuren. Aber es gibt auch Kameraden, die hier halbnackt hindurchkriechen. Das mag im einem oder anderen Fall blutig ausgehen.


Anaconda heißt eine Reihe von Betonröhren, die quer im Weg liegen. Diesmal nicht hindurch, sondern drüber, muss man. Im letzten Jahr war ich nach weit über drei Stunden hier fast am Ende. Diesmal geht es leichter. Meine Technik ist wenig attraktiv, dafür recht effektiv. Mit einem kleinen Hopser bäuchlings auf die Röhre und dann irgendwie mit den Beinen drüber. Und jetzt kann ich mich auch für die vielen hilfreichen Hände revanchieren, die mir in den vergangenen zwei Stunden hier und da aus dem Schlamm geholfen haben. Ein kleine Truppe Briten hat Not, ihren dritten Mann über die Röhren zu bekommen. Er ist kaum noch in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich fasse mit an, und nach ein paar Minuten haben wir ihn gemeinsam über die vielen Röhren getragen. So ist der Geist des Tough Guy Race. Am Ende kommen noch die Viagara Falls; ein aus alten Gummiförderbändern zusammengeschusterte Wasserrutsche. Die Jugendfeuerwehr hilft mit einer großen Spritze nach und es geht 10m tief in die Brühe. Das war es dann aber wirklich. Hinter dem letzten Hügel, denn man mit Hilfe von ein paar Nylonseilen überwindet, ist der Zieleinlauf.


Einen Glückwunsch mit Händedruck gibt es für jeden und sogar diesmal eine Medaille. Bei meinem ersten Tough Guy hatte sich Mr. Mouse wohl mit der prognostizierten Zahl der Finisher vertan und für die späten Finisher gab es die Medaille erst einige Wochen später per Post. Aber diesmal passt alles. Mit der Medaille um den Hals finde ich mich im Regenarationsstall ein, wo die Tealadies Tee, Kakao oder so etwas ausschenken. Alle bekommen auch eine silberne Wärmedecke. Was das soll, bleibt mir allerdings schleierhaft. Hat man sich wohl bei irgendwelchen Marathons abgeguckt. Hier sind alle Läufer eh schon unterkühlt und haben auch noch völlig durchnässte und durchweichte Kleidung an. Die muss ja erst einmal vom Körper aufgewärmt werden, bis die Decke wirkt – sieht ziemlich nach Placeboeffekt aus.


Jetzt kommt das schönste am Tough Guy. Duschen, zusammen mit den Mädels. Ja, es gibt nur einen großen Duschraum. Mit Tröpfelduschköpfen, aus denen kaltes Wasser rieselt. Die meisten Engländerinnen zeigen sich allerdings recht prüde uns lassen beim Duschen Höschen und BH am Körper. Obwohl die Unterwäsche ja auch ziemlich durchseucht mit Schafkot und Pferdepipi ist. Das sieht dann eher komisch als erotisch aus, wenn ein kalkweißes, bibberndes Mädchen in einem ockerfarbenen Slip (ursprünglich vermutlich aprilfrisch, sonnensauber und blütenweiß) und irgendwie schlaff sitzenden BH eine Katzenwäsche unter einer kalten Dusche vornimmt. Falls sich jetzt jemand warme Gedanken macht, dann eher zu warmen Decken, warmen Getränken, warmer Kleidung und warmen Fahrzeug. Ich staune jedenfalls nicht schlecht, als sich statt des erwarteten weißen Schaumes des Duschgels ein schmutziggrauer Film vom Kopf waschen lässt. Es dauert eine ganze Weile, bis sich ein Zustand gefühlter relativer Sauberkeit einstellt, damit ich guten Gewissens ein paar frische Sachen anziehen kann. Die zweite (notwendige) Dusche erfolgt später im Hotel mit warmen Wasser. Gut, dass mich dabei niemand von der Wirtschaftsförderung des ‚Black Country‘ gesehen hat. Bei dem, was sich da so alles aus diversen Körperöffnungen und Hautfalten in den Abguss ergießt, hätte man vermutlich rasch die Entscheidung getroffen, die vor über dreißig Jahren gestoppte Kohleförderung rund um Birmingham wieder aufzunehmen.


Weder ist der Tough Guy die ultimative Veranstaltung für potenzielle Selbstmörder. Noch ist sie die Tummelwiese für Verrückte. Ein bisschen infantil ist das aber schon. Als Kind gab es Zunder, wenn man mit aufgeschrammten Knien, zerissener Hose und durchgeweichten Klamotten nach Hause kam. Heute – als Erwachsener zahlt man dafür, dass man sich im Dreck tummeln darf. Wer fünf Kilometer am Stück laufen und zur Not noch auf eine Leiter steigen kann, ist normalerweise fit genug für den Tough Guy. Aber viele nehmen das ganze viel ernster. Leute mit Höhenangst klettern auf den Tiger und ich habe ein Mädchen gesehen, dass offensichtlich nicht schwimmen konnte und von Helfern durch den Dragon Pool getragen wurde. Warum tun die das bloß?


Kann ich nicht beantworten. Demnächst fülle ich die Anmeldung für 2009 aus. Reicht das als Erklärung?




Written by arneschuster

11. März 2008 at 23:35

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